Ungleichheit hautnah
von Arnold Wehmhörner
Ich lebe in einem Vorort von Kapstadt, Hout Bay. Jeden Tag, manchmal mehrmals, fahre ich an einer Kreuzung vorbei, an der bis zu 30 Leute mit kleinen Zetteln in der Hand stehen oder auf dem Bordstein sitzen. Frauen und Männer. Auf den Zetteln sind Name und Handynummer aufgeschrieben. Es sind Migranten aus den umliegenden Ländern Südafrikas, aus Zimbabwe, Malawi, und sogar aus dem Kongo. Sie suchen Arbeit. Ich zucke bedauernd die Schultern, ich habe keine Arbeit.
Wer als Migrant nach Hout Bay kommt, lebt in Imizamu Yethu, ein Township, das nach der Abschaffung der Apartheid entstanden ist. Vormals durften in Hout Bay nur Weiße leben. Früher habe ich meinen Gästen gesagt, dass dort 15.000 Menschen leben. Jetzt sage ich 30.000. Angeblich sollen zwei Drittel Migranten sein. So genau weiß das keiner. Sie sind ja nicht registriert und nur durch Luftaufnahmen kann man die Bevölkerungsdichte schätzen. Wer über den Berg nach Hout Bay hinein fährt und einen Blick auf den Berghang mit Imizamu Yethu wirft, kann kaum glauben, dass auf einem so kleinen Terrain so viele Menschen leben wie in einer deutschen Kleinstadt.
Während der Apartheid musste die Bevölkerung nach Rassen getrennt in unterschiedlichen Vierteln wohnen: Weiß, Schwarz, Farbig. In Hout Bay wohnten während der Apartheid nur Weiße und im Hafenviertel Hangberg Farbige. Um das wilde Ansiedeln von Schwarzen in den Dünen zu unterbinden, wurde das Areal Imizamu Yethu dafür zur Verfügung gestellt. Sozialer Wohnungsbau wurde geplant und teilweise ausgeführt. Wer als Südafrikaner über die Warteliste eines dieser Häuser ergatterte, vermietet das dazu gehörige Grundstück zum Bau von „Shacks“. Ich war in solchen Bretterbuden, ein bis zwei Zimmer für eine ganze Familie, kein fließendes Wasser und Chemietoiletten außerhalb für mehrere Familien.
Die Migranten sind Wirtschaftsflüchtlinge. Sie können keine Asylanträge stellen und bekommen keine finanzielle Unterstützung von Südafrika. Wenn sie ankommen, sind sie auf die Hilfe von Freunden und Verwandten angewiesen. Für Migranten aus Simbabwe hat Südafrika eine Sonderregelung geschaffen. 180.000 haben eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Die Bedienung in den Restaurants und Kaffees sind meistens Simbabwer, auch die Uber Fahrer. Die Parkwächter kommen oft aus dem Kongo; man kann Französisch mit ihnen sprechen.
Die südafrikanische Regierung hat es aufgegeben, die Migranten ohne Papiere aufzuspüren und in ihre Länder zurückzuschicken. Das Verfahren wäre sehr kostspielig und würde nichts nutzen, denn über die 4862 km lange Landgrenze, die kaum geschützt werden kann, können sie ohne Schwierigkeiten zurückkommen. Trotz der hohen offiziellen Arbeitslosigkeit von über 30% kommt die südafrikanische Wirtschaft ohne diese Migranten nicht mehr zurecht; der Service Bereich würde zusammenbrechen. Es kommen immer wieder neue Migranten; es sollen mittlerweile um die 8 Millionen zusätzlich zu den offiziellen 50 Millionen Südafrikaner sein. Und dann suchen sie Arbeit und stehen an eben diesen Kreuzungen wie an derjenigen, an der ich täglich vorbeifahre.
Und jedes Mal, wenn einem die kleinen Zettel mit flehendem Blick ans Autofester gehalten werden, fühle ich mich schuldig, dass ich im Luxus lebe mit Swimmingpool während diese in der Tat armen Menschen dankbar wären für ein bisschen Arbeit. Ich beschäftige für einmal in der Woche eine Haushaltshilfe und einen Gärtner. Die Haushaltshilfe ist farbige Südafrikanerin und der Gärtner kommt aus Malawi. Er hat zwei Töchter bei der Verwandtschaft in Malawi zurückgelassen und lebt mit seiner Frau und einer kleinen Tochter in einem Shack in Imizamu Yethu. In Malawi war er schon seit mehreren Jahren nicht mehr. Die Reise bedeutet für ihn zwei Tage Busfahrt mit hohen Kosten und illegalen Grenzübertritten mit dem Risiko der Festnahme. Beide ‚Angestellte‘ werden für südafrikanische Verhältnisse gut bezahlt; ein bescheidener Beitrag zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen.
Und wenn ich an der Kreuzung vorbeifahre, denke ich oft, dass ich doch besser in Deutschland leben sollte. Da wird man nicht so unmittelbar mit der Ungerechtigkeit in unserer globalen Welt konfrontiert. Da kann man sich zurücklehnen und stolz sein, dass Deutschland viele Asylanten aufnimmt und versorgt. Aber das ist natürlich eine scheinbare Zufriedenheit. Nur weil man die Armut nicht unmittelbar sieht, ist sie ja nicht weniger vorhanden und ist man ja nicht weniger gefordert, an ihrer Überwindung beteiligt zu sein.
Und da man weiß, dass es nicht hilft, die Ursachen der Armut zu beseitigen, wenn ich mein Haus verkaufe und das Geld an der Kreuzung verteile, müsste man jetzt in eine Diskussion über den Sinn der Entwicklungshilfe einsteigen oder über das Versagen und die Korruption der nationalen Eliten in Ländern nicht nur Afrikas. So schiebt man das Problem auf eine gedanklich höhere Ebene und versucht dadurch, seinen emotionalen Frieden zu finden. Bin ich deshalb ein schlechter Mensch?
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