Terror, Flüchtlinge und Arbeitslosigkeit
In Frankreich weiß man nicht, ob die EU Ursache oder Lösung der aktuellen Krisen ist.

Die Krise der Europäischen Union liegt für Frankreich zum einen in der Schwäche der EU als Krisenmanagerin und zum anderen in ihrer mangelnden Akzeptanz bei der eigenen Bevölkerung. Beides hängt für französische Entscheidungsträger unmittelbar zusammen. Hätte sich die EU in der Finanz- und Wirtschaftskrise in der Lage gezeigt – so die Wahrnehmung –, die Krise schneller und auch in den südlichen Mitgliedstaaten der EU in den Griff zu bekommen, wäre die Ablehnung in Frankreich heute nicht so hoch, und es würden sowohl der rechte als auch der linke Rand mit dem „Europa-Bashing“ nicht so erfolgreich Stimmen einfangen können.
Der Erfolg der EU vermittelt sich in Frankreich über Arbeitsplätze und Sicherheit – in beidem schneidet die Union schlecht ab.
Für Frankreich vermittelt sich der Erfolg der EU über zwei Kriterien, die in der Regel bei Umfragen an erster Stelle der Sorgen der Bevölkerung stehen: Arbeitsplätze und Sicherheit. Im Allgemeinen ist das in allen EU-Mitgliedsländern so. Für Frankreich gilt dies nach fast zehn Jahren steigender Arbeitslosenzahlen und nach den Terroranschlägen von Paris jedoch umso mehr. Und bei diesen beiden Punkten werden der EU Unfähigkeit und grundsätzliche konzeptionelle Mängel vorgeworfen. Seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise hat die EU im direkten Vergleich zu den USA wesentlich schlechter bei der wirtschaftlichen Erholung abgeschnitten. Falsche Rezepte und langes Zuwarten hätten zu dieser Situation geführt. Gleichzeitig wurden Ausgleichsmechanismen vermisst, die zwischen „Profiteuren“ und „Verlierern“ der Krise ein höheres Maß an europäischer Solidarität herbeigeführt hätten. Dabei wird allerdings nicht übersehen, dass mancher EU-Staat vorher selbst für die Voraussetzungen der Krise im eigenen Land gesorgt hat – sei es durch das einseitige Setzen auf den Immobilienmarkt, sei es durch konsumorientierte Schuldenaufnahme.
Das Thema Sicherheit hat nach den Terroranschlägen vom Januar und November 2015 für die Französinnen und Franzosen natürlich ein ganz anderes Gewicht bekommen. Auch hier schneidet die EU nicht gut ab. Die Schwächen des Schengen-Regimes, die porösen Grenzen, die fehlende Zusammenarbeit der Geheimdienste, die Mängel im Datenaustausch und bei deren Speicherung, die vieltausendfach unregistrierten Flüchtlinge über die Balkan-Route – das alles wird in Frankreich als massives Defizit wahrgenommen, das man einer verunsicherten Bevölkerung nicht vermitteln kann. Ein weiterer Aspekt unter dem Begriff Sicherheit sind die Kosten internationaler Missionen des französischen Militärs beziehungsweise die Kosten für die Terrorabwehr. Frankreich sieht sich hier unter besonderen Belastungen, die durch den Athena-Mechanismus nur zu einem kleinen Teil ausgeglichen würden. Es wünscht sich hier mehr „Solidarität“.
Das politische Frankreich ist zu weiteren Integrationsschritten bereit, jedoch nur im Rahmen eines Kerneuropas.
Um Europa zu dem zu machen, was sich die Bürger wünschten, ist das politische Frankreich zu weiteren Integrationsschritten bereit, jedoch nur im Rahmen eines Kerneuropas. Die in Frankreich immer besonders strittige Frage des Souveränitätstransfers wird anhand der Vorschläge zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion durchexerziert. Nationale Gestaltungs- und Kontrollmöglichkeiten sollen weitgehend erhalten, solidarische Ausgleichsmechanismen gestärkt werden.
Stellt sich die „deutsche Frage“ von neuem?
Im Blick auf das wiedererstarkte Deutschland mischen sich Bewunderung für die ökonomischen Leistungen und Kritik an der neuen Dominanz und der Durchsetzung deutscher Interessen auf europäischer Ebene. Dies gilt insbesondere für die Handhabung der Euro-Krise. Das langanhaltende deutsche Bestehen auf der Sparpolitik hat demnach die Konjunkturerholung massiv verzögert und die Arbeitslosigkeit vor allem in den südlichen Krisenländern auf Rekordhöhe schnellen lassen. Die trotz hoher Steuereinnahmen große Zurückhaltung Deutschlands bei öffentlichen Investitionen wird bestenfalls mit einem Kopfschütteln bedacht, schlimmstenfalls als gefährlich für die gesamte europäische wirtschaftliche Erholung gesehen. Unter ökonomischem Blickwinkel wird denn auch die Aufnahme von Flüchtlingen durch Deutschland als willkommener Konjunkturmotor interpretiert.
Das Handeln der Bundeskanzlerin in der Flüchtlingskrise trifft jedoch vor allem auf Unverständnis. Wie konnte Deutschland eine für Europa so wichtige Entscheidung quasi im Alleingang treffen? Was waren die Beweggründe der Kanzlerin? Waren es am Ende doch die Einflüsterungen der deutschen Wirtschaft, die nach Gegenmitteln zum Mindestlohn suchten? Oder war es ein Versuch, den demographischen Kollaps aufzuhalten, der Deutschland für die Zukunft in Aussicht gestellt wird? Während Präsident François Hollande bei öffentlichen Auftritten in dieser Frage den – kaum mit konkreter Politik unterlegten – Schulterschluss mit der Kanzlerin übt, zeigt Ministerpräsident Manuel Valls die Grenzen Frankreichs auf. Eine über die 30 000 zugesagten Flüchtlinge hinausgehende Aufnahme bis Ende 2017 komme für Frankreich nicht in Frage, sagte er im Februar am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz. Stattdessen sollen die Grenzen wieder besser gesichert werden, um das Schengen-System nicht endgültig zu zerstören.
Der Ruf Deutschlands nach europäischer „Solidarität“ wird gekontert mit dem Verweis, dass nicht alle EU-Staaten in der Lage wären, so viele Flüchtlinge aufzunehmen.
Der Ruf Deutschlands nach europäischer „Solidarität“ wird hier gekontert mit dem Verweis, dass eben nicht alle Staaten der EU in der Lage wären, so großzügig Flüchtlinge aufzunehmen und Frankreich andererseits im Bereich der europäischen Sicherheit ein größeres Maß an (nicht nur finanzieller) Verantwortung trage. Die Ablehnung der Aufnahme zusätzlicher Flüchtlinge trifft die Stimmung eines Großteils der Bevölkerung und ist in Zeiten wirtschaftlicher Schwäche und immer noch steigender Arbeitslosenzahlen auch schlecht vermittelbar. Da Hollande seine erneute Kandidatur für das Präsidentenamt von sinkenden Arbeitslosenzahlen abhängig gemacht hat, besteht auch bei ihm persönlich ein ureigenes Interesse, die Zuwanderung in Grenzen zu halten.
Die Ablehnung ist auch nicht gegen Deutschland gerichtet, hatte Frankreich doch schon im Mai 2015 den Vorschlag der Europäischen Kommission für Quoten abgelehnt – also vor Beginn des massiven Zustroms. Die Stärke des strikt gegen jede weitere Zuwanderung agitierenden Front National trägt darüber hinaus zur offiziellen französischen Haltung bei. Es gibt aber unter Sympathisanten von Hollandes Parti Socialiste (PS) auch eine große Zahl von Franzosen, welche die restriktive Haltung der Regierung ablehnen – prominentestes Beispiel ist die ehemalige Parteivorsitzende der PS, Martine Aubry.
Stefan Dehnert ist seit September 2014 Repräsentant der Friedrich-Ebert-Stiftung in Frankreich. Zwischen März 2003 und August 2014 arbeitete er in Serbien, Mazedonien und Kosovo. Darüber hinaus war er Regionalkoordinator für Südosteuropa der Friedrich-Ebert-Stiftung.