Schwerstarbeit

Labours Wahldebakel zeigt, vor welchen Herausforderungen die europäische Sozialdemokratie steht. Sie muss zwei sehr unterschiedliche Lager gewinnen.

Der Wahlkreis Hartlepool im Nordosten Englands galt lange als Hochburg der sozialdemokratischen Labour-Partei. Nun haben die Konservativen dort die Wahl für sich entschieden. Premier Boris Johnson zeigt sich erfreut.

In der britischen Politik ist der sprichwörtliche Groschen endlich gefallen. Die Labour-Partei erlitt bei den Nachwahlen in Hartlepool eine bittere Niederlage und verlor in Arbeitergegenden ihre Ratssitze nicht nur an die Konservativen, sondern auch an die Grünen und an progressive Nationalisten. Im schottischen Parlament konnten die Pro-Unabhängigkeitsparteien ihre Mehrheit weiter ausbauen. Damit zeichnen sich die Konturen der politischen Landschaft nach dem Brexit deutlich ab.

Inzwischen wird das britische Wahlverhalten nicht mehr von wirtschaftlichen Interessen oder gewachsenen Loyalitäten, sondern von Wertvorstellungen bestimmt. Die Gewinner des 6. Mai waren die Parteien, deren Programme sich mit den kulturellen Werten eines Teils der Wählerschaft deckten. Das waren die schottischen Nationalisten, die national und sprachlich in Wales verwurzelten Sozialdemokraten der Welsh Labour Party, die Grünen (die mehr als 50 Ratssitze errangen) und vor allem Boris Johnsons Konservative.

Johnson hat Geldgier, weiße Opfermentalität, Korruption und Fremdenfeindlichkeit in den ehemals industriellen Kleinstädten Englands nicht nur salonfähig, sondern regelrecht zur Mode gemacht. In der Arbeiterstadt Hartlepool, deren Wählerschaft 2016 zu 70 Prozent für den Brexit stimmte, gaben 15 000 Wählerinnen und Wähler ihre Stimme einer Kandidatin der Konservativen, die keinerlei Verbundenheit mit ihrer Stadt erkennen ließ – und das vor dem Hintergrund, dass die Tories während der Pandemie eine der höchsten Todesopferzahlen weltweit zu verantworten hatten und Johnsons Regierung mit massiven Korruptionsvorwürfen konfrontiert ist.

Die sozialkonservativen Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterklasse verachten die Armen.

Die Labour-Partei hingegen konnte von den Wählerinnen und Wählern, die bei der britischen Unterhauswahl 2019 für sie gestimmt hatten, nicht einmal 8 000 mobilisieren. Obwohl der Labour-Kandidat ein ortsansässiger Arzt war, der an vorderster Front die Epidemie bekämpfte, gaben die Wählerinnen und Wähler einer korrupten und elitären Politik den Vorzug.

„Wie können die Leute nur die Tories unterstützen, obwohl ein Viertel ihrer eigenen Kinder in Armut lebt?“, klagte einer der wenigen liberalen Kommentatoren auf Twitter. Wer schon einmal Haustürwahlkampf gemacht hat, für den liegt die Antwort auf der Hand: Die sozialkonservativen Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterklasse verachten die Armen, genauso wie sie „Studenten“, die „Woke“-Kultur, Flüchtlinge und Menschenrechte geringschätzen.

Ihr politisches Handeln wird jetzt in erster Linie von der eigenen Identität bestimmt und nicht von wirtschaftlichen Interessen. Sie sehen sich in Konkurrenz zu den Arbeitsmigranten. Sie erleben, dass ihre Stadt mit den Metropolen um das spärliche Wachstum konkurriert, das in unserer maroden Wirtschaft überhaupt erzielt werden kann. Und wenn sie gegen „Studenten“ wettern, meinen sie eine Welt, in der Lernen, Toleranz und Offenheit einen höheren Stellenwert haben als Gemeinschaft, Ortsverbundenheit und die patriarchalische Familie.

Vor allem haben sie die neoliberale Logik der Zeit nach 2008 übernommen, die da lautet, dass der Reichtum der Superreichen unantastbar ist und weiter wächst und dass Umverteilung deshalb nur zwischen den verschiedenen Teilen der Arbeiterklasse stattfinden kann. Als ältere weiße Hauseigentümer haben sie kein Interesse an sozialer Gerechtigkeit für jüngere, besser ausgebildete, kosmopolitischere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die von einem Eigenheim nicht einmal träumen können. Seit nun in Form von politischen Werbegeschenken kostenloses Geld aus der Staatskasse und der Bank von England fließt, haben sie erkannt, dass sie im nach wie vor stark zentralisierten politischen System Englands die Gelder am besten in ihre Stadt lenken können, wenn sie für Johnson stimmen.

Da Labour nicht in der Lage ist, ein klares und einendes Narrativ zu entwickeln, ist die Unterstützerbasis für eine progressive Politik kleinlaut und orientierungslos.

Sie sind bei weitem nicht die Mehrheit – nicht einmal in den Städten, in denen die Konservativen dank ihrer Stimmen die Führung übernehmen. Aber sie müssen auch gar keine Mehrheit sein. Da Labour nicht in der Lage ist, ein klares und einendes Narrativ zu entwickeln, ist die Unterstützerbasis für eine progressive Politik kleinlaut und orientierungslos. Die 8 000 Wählerinnen und Wähler, die Labour in Hartlepool zwischen 2019 und 2021 verloren hat, sind nicht mehrheitlich zu den Konservativen gewechselt – sie sind einfach nicht zur Wahl gegangen.

In London stand ich am Wahltag in meinem Heimatwahlkreis Lambeth & Southwark in einer Schlange von 50 Menschen aus der Arbeiterklasse, die so wirkten und sich auch so anhörten, als wären sie nur zu einem einzigen Zweck hier: um dafür zu sorgen, dass die Greater London Authority – also Regierung und Parlament der Hauptstadtregion – fest in die Hände von Labour und Grünen gelangt. Mit ihren Stimmen bewirkten sie einen lokalen Erdrutschsieg für den amtierenden Labour-Bürgermeisterkandidaten Sadiq Khan, der daraufhin stadtweit zur Wiederwahl antrat. Noch interessanter ist, dass etwa die Hälfte dieser treuen Labour-Wählerschaft den Grünen ihre Zweitpräferenz gab und ihnen damit bei der Kommunalwahl zu Platz zwei verhalf.

Wenn das die „neuen Hochburgen“ der Labour-Partei sind – Großstädte, Universitätsstädte und Orte mit großen ethnischen Minderheiten oder vielen lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen und transgender Bewohnern – dann ist die Unterstützung für die Labour-Partei fragil und nicht mehr selbstverständlich. Die dortige Wählerschaft wünscht sich eine lebenswerte Stadt und eine Politik, die für Toleranz und eine CO2-freie Wirtschaft eintritt. Ihre kulturellen Werte sind den meisten Wählerinnen und Wähler in Hartlepool diametral entgegengesetzt und doch in derselben Weise im eigenen Milieu verankert.

Labour steht wie alle sozialdemokratischen Parteien vor der Aufgabe, aus zwei Bevölkerungsgruppen ein Bündnis zu schmieden: Arbeiter in Kleinstädten und Angestellte in Großstädten.

In der Lebenswelt dieser Wählerschaft sind Gemeinschaft und Ortsbezogenheit auf andere Weise wichtig – die Gemeinschaften, in denen sie leben, müssen jeden Tag neu erschaffen werden, und zwar in einer Umgebung, die sich rasant und gnadenlos verändert. Da ist wenig Platz für Tradition, Nostalgie oder Sentimentalität, weil die modernen, urbanen Überlebensstrategien dafür keinen Raum lassen.

Labour steht wie alle sozialdemokratischen und linken Parteien in Europa jetzt vor der Aufgabe, aus zwei Bevölkerungsgruppen ein Bündnis zu schmieden, mit dem sie Wahlen gewinnen kann: die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Kleinstädten und die Angestellten in den Großstädten. Wie kläglich die Labour-Partei an dieser Aufgabe bislang scheitert, zeigt sich nicht nur an ihrem schlechten Abschneiden in Hartlepool, sondern auch an den mehr als 200 verlorenen Ratssitzen in vergleichbaren Regionen Englands.

Die Selbsterforschung wird sich zu einem großen Teil auf den noch recht neuen Vorsitzenden der Labour Party, Keir Starmer, konzentrieren. Es war seine Entscheidung, die Ausarbeitung eines politischen Programms auf die lange Bank zu schieben, sodass die Parteikandidaten im Wahlkampf ohne thematische Vorgaben improvisieren mussten. Es war Starmers Büro, das in Hartlepool einen Anti-Brexit-Kandidaten aufgestellt und den Wahlkampf geleitet hat.

Es liegt für die Oppositionsparteien durchaus im Bereich des Möglichen, Johnson zu besiegen, falls er sich entschließen sollte, Neuwahlen in die Wege zu leiten.

Johnsons Vormarsch in Englands Kleinstädten „löst“ nicht die offenen Probleme des Brexits, sondern verschärft sie noch. Er trägt dazu bei, dass Schottlands heranwachsende Generation, die sich laut Umfragen für die Unabhängigkeit begeistert, sie noch entschlossener einfordert. Er führt dazu, dass die städtischen Kerngebiete in Wales fest in der Hand der Labour-Partei bleiben, die dank der dezentralisierten Befugnisse die Pandemiebekämpfung steuern und bei den Wahlen davon profitieren konnte. Und er hat zur Folge, dass Labour in England gleich zwei Gefahren im Nacken sitzen – dass nämlich auf der rechten Seite weitere Wähler zu den Tories abwandern und dass sie auf der linken Seite Wählerinnen an die erstarkenden Grünen verliert.

In dieser Krise wirkt die britische Sozialdemokratie vielleicht nicht komplett planlos, aber doch so tief gespalten, dass sie handlungsunfähig ist. Ein Teil des alten rechten Flügels – die Sozialkonservativen aus den Zeiten vor Tony Blair, die immer noch etwa ein Sechstel der Parlamentssitze innehaben – sehnt sich politisch in die Zeit vor 1968 zurück: Einwanderungskontrolle, eine harte Hand des Staates und militärische Auslandseinsätze in aller Welt. Die „Blairites“ wollen ein Zurück zu Tony Blair. Viele Anhänger von Jeremy Corbyn, der nach der Wahlniederlage 2019 den Parteivorsitz abgab, wünschen sich eine Neuauflage des Corbynismus und freuen sich über Starmers Rückschläge. Starmer indes wird, da er sich keine eigene breite Basis aufgebaut hat, zwischen den Lagern hin- und hergestoßen.

Dennoch zeichnet sich ein gangbarer Weg in die Zukunft ab. Trotz aller Negativschlagzeilen für Labour beträgt der landesweite Stimmenanteil der Konservativen nach wie vor schätzungsweise 36 Prozent. Da Labour bei 29 Prozent liegt und die Liberaldemokraten, die gezeigt haben, dass sie bei Kommunal- und Regionalwahlen gewinnen können, inzwischen auf 18 Prozent kommen, liegt es für die Oppositionsparteien durchaus im Bereich des Möglichen, Johnson zu besiegen, falls er sich entschließen sollte, Neuwahlen in die Wege zu leiten.

Labours Plan A ist und bleibt, dass Starmer bei den Parlamentswahlen die Stimmen der Grünen und der Liberaldemokraten einheimst.

Labours Plan A ist und bleibt, dass Starmer bei den Parlamentswahlen die Stimmen der Grünen und der Liberaldemokraten einheimst und somit genügend sozialkonservative Arbeiterinnen und Arbeiter für die Labour-Partei zurückgewinnt, um Johnson zu stürzen. Falls das nicht klappt, gibt es noch einen Plan B, für den der linke Abgeordnete Clive Lewis aus Norwich und seine Anhänger vom Remain-Flügel der Labour-Partei sich starkmachen: Labour könnte sich um ein formelles Wahlbündnis mit den Grünen und den Liberaldemokraten in England bemühen, was rechnerisch die Chance böte, Johnson auf einen Schlag zu erledigen.

Für einen Journalisten, der diese taktischen und strategischen Zwickmühlen aus der Innenperspektive mitverfolgt, ist es erstaunlich, wie wenig Berufspolitikerinnen die Lage durchschauen. Sie erleben die Gesamtsituation als verwirrenden Faktenwust, der die Realität, für die sie geschult wurden, unangenehm durcheinanderbringt. In der Welt von heute mit ihren herausfordernden politischen Ideen, dem technologischen Wandel, dem Populismus und der zunehmenden Hassrhetorik wirken sie wie auf verlorenem Posten.

Die französische, niederländische und deutsche Leserschaft weiß nur zu gut, wie diese Geschichte endet. Die Auseinandersetzung um eine Neuausrichtung der Labour-Partei, die so weit reicht, dass Starmers Strategie tatsächlich aufgeht, ist deshalb weniger ein Streit um das Parteiprogramm als vielmehr ein Kampf für das Verstehen.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.

Aus dem Englischen von Christine Hardung

Paul Mason ist Autor und Fernsehjournalist. Sein Buch Postkapitalismus: Grundrisse einer kommenden Ökonomie erschien 2016, Klare, lichte Zukunft – Eine radikale Verteidigung des Humanismus erschien 2019.

- ANZEIGE -

Related Posts

Politik: Wer hat Angst vorm bösen Wolf

Politik: Wer hat Angst vorm bösen Wolf

Politik: Das Spiel ist aus

Politik: Das Spiel ist aus

Led Zeppelin – Whole Lotta Love

Led Zeppelin – Whole Lotta Love

No Comments Yet

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert