Jonathan Lee – Joy
Rezension von Dr. Aide Rehbaum
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Offenbar wollte der Autor seine Erfahrungen, die er in einer Anwaltskanzlei machen musste, mal so richtig sarkastisch auf die Spitze treiben. Die Hauptfigur Joy Stephens führt nach außen eine offene Beziehung mit Dennis, nachdem ihre Ehe zur Routine geworden ist. Am Tag ihrer Beförderung stürzt sie aus dem Fenster, nachdem ein Selbstmordversuch mit Tabletten missglückt ist. Sie hatte eine Affäre mit Peter, dem Mann ihrer Freundin Christine.
Jedes Kapitel gibt die Aussage der Zeugen wieder. Die meisten arbeiten in derselben Kanzlei und stehen unter enormem Leistungsdruck. Die Hilfskraft Barbara, seit vierzig Jahren in der Firma, berichtet ganz anders über Joy und deutet vieles nur an, ebenso der Wachmann Samir oder der Helfer im Fitnessraum. Deren Sicht wechselt ab mit den Perspektiven ihrer Kollegen bzw. Partner. Von Joy erfahren wir den Ablauf des Unglückstages, durchsetzt von Szenen aus ihrer Vergangenheit, wie einer Abtreibung und einem verschwundenen Neffen.
Besonders gut gelingt es Lee, den Akteuren einen unverwechselbaren Stil zu verleihen, aus dem der Bildungsgrad des Erzählers erkennbar wird. Dennis z.B., der an der Universität ein Buch schreibt, fügt seinen langen Sätzen sogar Fußnoten an, die Hilfskraft hat Konzentrationsprobleme und schweift ab in Nebensächliches, der Wachmann spricht ohne jedes Satzzeichen. Die Sprache ist mal betont jugendlich hip, mal schlicht, mal distanziert oder hochgestochen. Das oberflächliche Dahindümpeln der Juristen, denen ein Mandant und dessen Sorgen wichtiger sind als diejenigen des Partners, die fremdgehen, sich gegenseitig austricksen, beobachten, wegdrängen schlägt sich in Satzbau und Wortwahl gekonnt nieder.
Jeder der Mitarbeiter lebt hinter einer verlogenen Fassade und ist egozentrisch auf die eigene Karriere bedacht. Das ständige Streben nach Perfektion bis in das kleinste Accessoire macht die Gemeinschaft verrückt. Wer nicht alles mitgemacht, verliert das Gesicht. Bloß keine Schwäche zeigen oder etwa eigene Wege gehen. Der Roman lebt, trotz des überraschenden Endes, weniger von Spannung, als vielmehr von den verschiedenen Charakteren, die prägnant herausgearbeitet sind. Eine Lektüre, die volle Aufmerksamkeit erfordert, den Leser teils mit Mitleid, teils angewidert von dieser Gesellschaft zurücklässt.
Jonathan Lee, 1981 in Surrey, England, geboren, studierte Literatur, lebte eine Zeit lang in Südamerika und arbeitete sieben Jahre in einer Anwaltskanzlei in London. Inzwischen lebt er in New York, wo er sich nach Stationen bei renommierten Verlagen der Arbeit an Romanen und Drehbüchern widmet. Der ›Guardian‹ nennt Jonathan Lee »eine bedeutende neue Stimme der englischen Literatur«.
Diogenes Verlag AG
Hardcover Leinen
384 Seiten
erschienen am 24. Januar 2024
978-3-257-07242-6
€ (D) 25.00 / sFr 34.00* / € (A) 25.70
* unverb. Preisempfehlung
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