Von Wolfgang Bergsdorf

Autor Wolfgang Bergsdorf

Geht es Ihnen auch so, dass die Bilder von Tod und Zerstörung aus Putins Angriffskrieg gegen die Ukrainer langsam zur Gewohnheit werden angesichts ihrer Omnipräsenz im Fernsehen und im Internet? Der militärische Konflikt als prioritäres Thema der Informationen hat Konkurrenz bekommen von einer sprunghaft gestiegenen Inflation, von einer Explosion der Energiekosten, von Debatten über Verlängerung der Laufzeiten von Atommeilern und über Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen, von weltweit gestiegenen Kosten für Weizen und andere Agrarprodukte sowie auch von den bestürzenden Nachrichten über Folgen des Klimawandels. Alle diese Themen wetteifern mit dem Ukraine-Krieg um die Aufmerksamkeit des Publikums. Es ist interessant, dass das, was vor Monaten noch vordringlich war für die Nachrichtensendungen – also Pandemie und Flüchtlingsströme -, heute auf die hinteren Ränge der Wichtigkeit verwiesen wird, ohne dass der Problemdruck geringer geworden wäre.

Wenn man die Perspektive des russischen Präsidenten einnimmt, erkennt man sehr bald, wie sehr ihm diese Themenwechsel an der Spitze der Nachrichten gefallen dürften. Sie lenken ab von den grausamen Details der russischen Kriegsführung und lassen die Gründe für die militärische Aggression in der Vergessenskurve verschwinden. Dieser Effekt ist umso fataler, als fast alle Themen, die sich nun in den Medien in den Fokus der Aufmerksamkeit schieben, ursächlich mit dem russischen Angriffskrieg zusammenhängen.

Der Grund für den Verlust an Aufmerksamkeit ist die unendlich erscheinende Wiederholung der schrecklichen Kriegsbilder, die so an Informationswert und emotionaler Bedeutung verlieren. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass Aufmerksamkeit die knappste aller mentalen Ressourcen ist. Zu den immer gleichen Bildern kommen die immer gleichen Diskutanten in den Talkshows des Fernsehens mit den immer gleichen Ansichten, die wiederum von den TV-Redaktionen nicht nach Kriterien von Erfahrung, Kompetenz und Bedeutung ausgesucht werden, sondern nach dem vermuteten Unterhaltungswert. Also nach der Fähigkeit, Krach zu machen. So kommt es, dass der Krieg in der Ukraine nun seit sechs Monaten andauert und die Beurteilungskompetenz des Publikums nicht geschärft, sondern eher schwächer wurde.

Es scheint in Vergessenheit zu geraten, dass Putin mit dem Angriffskrieg eine ganze Reihe von strategischen Zielen verfolgt. Er nennt als erstes Ziel die „Entmilitarisierung und Entnazifizierung“ der Ukraine, will aber letztlich ihre Staatlichkeit auslöschen und sie an Russland angliedern oder – darüber entscheidet wohl der Kriegsverlauf und die Kriegsdauer – eingliedern. Dass die russische Propaganda jetzt zum Regimewechsel in der Ukraine aufruft, weil die dortige Führung „volksfeindlich und geschichtsfeindlich“ sei, ist eigentlich nichts Neues, denn der russische Inlandsgeheimdienst hat auf den ukrainischen Präsidenten Selenskyj schon mehrere Attentatsversuche unternommen. Es ist einfach ruchlos und zynisch, wenn ein autoritäres Regime, in dem Urnengänge ohne personelle Alternativen stattfinden, einen demokratisch gewählten Präsidenten als „Volksfeind“ zu delegitimieren versucht.

Putins nicht minder wichtiges Kriegsziel gilt dem Westen, dessen angebliche Dekadenz er seit Jahren aus seiner Homophobie heraus anprangert. Noch höher als die LGTB-Thematik (also die sexuelle Verschiedenheitstheorie) in seiner Abneigungs- und Furcht-Skala stehen die Freiheits- und Bürgerrechte des Einzelnen, also Pluralismus und Diversität. Eine Demokratie in der Ukraine wird so zu seinem Albtraum, der auf die Herzkammer seiner fossilen Kleptokratie abzielt.

Viele kritische Beobachter der russischen Politik seit Februar 2022 glauben, dass sich der Hauptakteur dieses Krieges, also Präsident Putin, längst von der Ratio des politischen Handelns verabschiedet hat. Denn diese verlangt, auch die Möglichkeiten eines Scheiterns politischer Ambitionen mitzudenken. Mancher Kommunikator im Westen glaubt sogar, dass Putin seiner Sinne nicht mehr Herr ist oder den Verstand verloren hat. Das ist eine gefährliche Fehleinschätzung. Der russische Schriftsteller Wiktor Gerofejew macht darauf aufmerksam, dass Putin sich vielmehr in einer „zweiten Wirklichkeit“ bewege, die sich an historischen Vorstellungen russischer oder sowjetischer Dominanz orientiere. Um die vergangene Größe wieder herzustellen, seien größere politische und wirtschaftliche Opfer notwendig. Diese „zweite Wirklichkeit“ ist in dem berühmten Diktum Putins „vom Untergang der Sowjetunion als größter Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ beschrieben. Zum ersten Mal äußerte er diese Überzeugung 2007 bei einem Treffen mit der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel in Sotschi. In Reden und historischen Aufsätzen führte er  sie später immer wieder und immer detaillierter aus. Aber niemand in der westlichen Welt, in den Think Tanks und universitären Einrichtungen, die sich mit Russland beschäftigen, hat diese Ankündigungen ernst genommen – mit Ausnahme von einigen baltischen Beobachtern, deren Warnungen in der westeuropäischen Öffentlichkeit als „voreingenommen“ ignoriert wurden.

Nun hat sich in den vergangenen Wochen der amerikanische Historiker Timothy Snyder von der Yale University zu Wort gemeldet. Er ist fraglos weltweit einer der besten Kenner der Ukraine, wovon sein 2010 erschienenes Buch „Bloodlands“ über die Ukraine zwischen Stalin und Hitler zeugt. Sneyder stellt die These auf, dass der Krieg in der Ukraine eine postkoloniale Konfrontation ist, die Russland ebenso verlieren werde, wie alle Kolonialmächte die Unabhängigkeitskriege ihrer früheren Kolonien verloren haben. Wenn man europäische Länder wie Großbritannien oder Frankreich als frühere Imperien wahrnimmt, ließe sich diese Quasigesetzmäßigkeit erkennen. Jedes dieser Länder hat sich von seinen Kolonien trennen müssen, meistens in einer blutigen Auseinandersetzung. Deutschand hat seine Kolonien zwar schon nach den Ersten Weltkrieg verloren, aber es hat im Zweiten Weltkrieg auch einen imperialen Krieg geführt, um sich in Osteuropa fremde Territorien einzuverleiben. Es hat ihn verloren und dann eine Demokratie aufgebaut. Diese Chance habe nun auch Russland, nämlich im Krieg gegen die Ukraine den Kürzeren zu ziehen und so eine demokratische Entwicklung zu nehmen.

Dazu ist es – folgt man dieser Theorie – allerdings notwendig dass der Westen weiter die Ukraine mit schweren Waffen ausstattet und sie finanziell massiv unterstützt. So wird Zeit gewonnen, die Wirksamkeit der verhängten Sanktionen zu stärken. Das westliche Verteidigungsbündnis – die NATO – lernt durch den russischen Angriff die Priorität des Aufbaus einer Strategie zur Verteidigung des Ostseeraumes. Die Regierungen der Länder der Europäischen Union und die Brüsseler Kommission müssen alles unternehmen, um in den kommenden zwei Jahren von fossiler Energie aus Russland unabhängig zu werden und den Verzicht ihrer Wirtschaftssysteme auf Kohle voranzutreiben. Russlands Angriff auf die Ukraine verlangt eine neue Bewertung der weltweiten Prioritäten. Es ist unverkennbar, dass sich die freiheitlichen Demokratien einer wachsenden Phalanx autoritärer Regime gegenübersehen, die eine regelbasierte, auf Zusammenarbeit bei der Lösung internationaler Probleme beruhenden und vom Völkerrecht getragenen internationalen Ordnung beseitigen wollen.

Die kaum verhüllte Sympathie Chinas, Indiens und auch Ägyptens für die russische Position lassen nichts Gutes erwarten. Wir müssen die Aufgaben innerhalb der Gemeinschaft der Demokratien und ihres Verteidigungsbündnisses neu verteilen. Denn schon jetzt zeichnet sich ab, dass die USA im indo-pazifischen Raum stärker gefragt sein werden als bisher. Denn der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wird den politischen und ökonomischen Aufstieg Chinas weiter beflügeln. Wie umworben sich das chinesische Imperium fühlen kann, mache zwei Details aus dem globalen Kommunikationsraum deutlich: Es ist des Nachdenkens wert, dass China und sein Präsident XI weder in der russischen Propaganda mit ihren millionenfachen Desinformationen genannt werden noch in amerikanischen Filmen auch nur leise Kritik an China und seiner Führung geübt wird. Die US-Regierung kann diese Vorzugsbehandlung durch ihre Filmindustrie eigentlich nicht gutheißen. In der amerikanischen Demokratie gehört Kritik an der eigenen Regierung zum verfassungsmäßig geschützten Recht jedes einzelnen.

 

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinett“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt .  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

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