Rezension von Dr. Aide Rehbaum
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Sergio del Molino: Leeres Spanien. Reise in ein Land, das es nie gab

© Patricia Garcinuño

Aufgrund der überwältigenden Vielfalt der iberischen Halbinsel an Weltkultur- und- naturstätten kommen dem Reisenden, je länger er sich dort aufhält, verschiedene Fragen. Ist die Küstengegend mitsamt dem Gebirge weitgehend zersiedelt mit kleinsten Weilern, so werden die Abstände zwischen den Dörfern größer, je weiter man ins Landesinnere vordringt. So viel Platz um sich herum ist man als Deutsche nicht gewohnt. Gab es hier keine winzigen Fürstentümer, die sich gegenseitig bekriegten, wechselnde Allianzen bildeten, die Wirtschaft ihrer Landportionen mehr oder weniger förderten, Raubritter oder Städtebünde? In Andalusien haben die Mauren Bewässerungssysteme eingeführt, deren Nutzen ihre Nachfolger erkannten. Offenbar versuchte niemand, dergleichen Kenntnisse im Landesinneren zu verbreiten. Ist hier aller Wald verschwunden oder gab es nie welchen? Sind die Bewohner alle ausgewandert?

Solchen Fragen geht der Journalist Molino nicht nach. Während vieler Reisen hat er die Bevölkerung beobachtet und geht das auffällige Phänomen hauptsächlich von der literarischen Seite an. 75 Prozent der spanischen Gesamtbevölkerung lebt in Großstädten und an der Küste. Im Landesinnern fährt man stundenlang durch Plantagen bis zum Horizont. Tausende Dörfer sind komplett verlassen. Leider lässt der Autor die historischen Bedingungen weitgehend außen vor und deutet nur an, dass für die Adligen am Hofe, die Verbannung auf ihre Ländereien einem Aufenthalt in Sibirien gleichkam. Fast logisch ist dann der Brauch, Strafgefangene nicht in die Kolonien abzuschieben, sondern ins Landesinnere. Außerhalb der Städte gab es weder Kultur, noch geistreichen Umgang und die Grundbesitzer hatten keinen Anreiz, daran etwas zu ändern.

Sergio Del Molino setzt bei der Industrialisierung unter dem faschistischen Franco ein, der die Landflucht zwischen 1950 und 1970 gezielt förderte, für Staudammprojekte, deren Vorteile nur den Städten zugutekamen, Bevölkerung zwangsumsiedelte. Selbst Entwicklungspläne der EU konnten an den Folgen nichts verändern. Dem Autor geht es darum, darzustellen, wie sich im Laufe der Zeit Sichtweisen veränderten: Er entdeckte auch hier eine Art Wandervogelbewegung, pädagogische Konzepte, die den jungen Leuten die Reichhaltigkeit von Märchen und Legenden, die Urtümlichkeit näherbringen wollten. Doch aller missionarische Eifer konnte an der Leere an sich nichts ändern. Etwas wie Landliebe kennt man in Spanien nicht.
Alles Gefährliche und Unbequeme wie Kernkraftwerke, Fabriken, Militärübungsplätze, Uranminen wurden ins Innere gelegt. Sergio Del Molino zitiert aus einer Fülle spanischer Literatur und stellt fest, dass die Beurteilung der Bauern in den kargen Landesteilen bei Spaniern verächtlicher ausfällt als bei Ausländern. Er zergliedert Filme, die in dieselbe Kerbe schlugen, und zeigt den Versuch der städtischen Migranten, ihre Traditionen und Bilderwelten in den Städten am Leben zu erhalten. Der Stolz der Katalanen auf ihre Sprache und Kultur ist als moderner Auswuchs zu werten.

 

Sergio del Molino, 1979 in Madrid geboren, Journalist, preisgekrönter Schriftsteller und Kolumnist für »El País«. Als Zeitungsreporter hat er weite Teile des spanischen Hinterlandes bereist. »Leeres Spanien« wurde 2016 von vielen Zeitungen zum wichtigsten Buch des Jahres erklärt und mittlerweile mehr als 150.000 Mal verkauft, sein Titel ist zum stehenden Begriff geworden. Del Molino lebt in Zaragoza, einer der wenigen Städte des ››leeren Spaniens‹‹.

 

Verlag Klaus Wagenbach GmbH

Sergio del Molino

Leeres Spanien

Reise in ein Land, das es nie gab
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Sachbuch. 22.9.2022
304 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag
Buch 30,– € / E-Book 24,99 €

ISBN 978-3-8031-3721-0

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