Kulturkrieger Boris „Braveheart“
Glaubt man der liberalen Presse, vor allem vom europäischen Festland, steht der Scharlatan Boris Johnson kurz vor dem Aus. Sein Missmanagement hat dazu geführt, dass Großbritannien in der Corona-Krise die höchsten Todeszahlen pro Kopf in Europa hatte und den tiefsten Wirtschaftseinbruch. Seine politische Irrlichterei hat zu handgezählten elf U-Turns in den vergangenen Monaten geführt.
Die drei Highlights sind die vom Fußballnationalspieler Marcus Rashford erzwungene Kehrtwendung bei der kostenlosen Schulspeisung, die britische Corona-App, die als Weltklasse angekündigt und kurz vor dem Start wegen Dysfunktionalität zurückgezogen wurde sowie das Desaster der Schulnoten der Abschlussklassen 2020. Denn die Schülerinnen und Schüler konnten wegen Corona keine Examina ablegen und wurden daher von den Lehrkräften direkt benotet. Hier hatten Johnson und sein Bildungsminister einen Algorithmus entwickeln lassen, um eine objektive Benotung zu gewährleisten. Dieses vom Premier später als „Mutantenalgorithmus“ bezeichnete Programm agierte wie aus dem Klischeeheft für konservative Parteien: Abgänger privater Schulen bekamen einen Bonus, während Schüler aus benachteiligten Familien oder Brennpunktschulen erhebliche Abschläge auf ihre Noten hinnehmen mussten. Nach dem öffentlichen Aufschrei, machte die Regierung auch hier einen Rückzieher. Was bleibt ist der Eindruck der Inkompetenz, eine Kerbe, in die der neue Labour-Chef Keir Starmer nur zu gerne schlägt.
Das Vorgehen Londons in Sachen Brexit verstärkte nur den Eindruck, dass diese Regierung es nicht weit bringen werde. Nach monatelangem Stillstand bei den Verhandlungen, hatte sich der für den Brexit gewählte Johnson („Get Brexit Done“) entschieden, der EU mit einem Affront Beine zu machen. Er kündigte ein Gesetz an, mit dem das Land gegen Austrittsabkommen aus der EU verstoßen würde. Großbritannien würde damit internationales Recht brechen – „auf eine begrenzte und sehr spezifische Art“ – so die Einschränkung. Das stieß nicht nur auf Gegenwehr der EU, zudem wurde Johnson im Parlament vom ehemaligen Labour-Chef Ed Miliband zerlegt und aus seiner eigenen Fraktion wurden erstmals öffentlich Gegenstimmen laut. Bislang hatte sich das Gegrummel nur in anonymen Zitaten in der Presse gefunden. Doch auch wenn selbst die konservative Presse inzwischen gegen den Premier stichelt, ging das Gesetz mit deutlicher Mehrheit durchs Parlament.
Brexit und Corona haben den Independence-Befürwortern nördlich des Limes neuen Schub gegeben.
Aber die ultimative Klippe dieses Teilzeit-Premierministers, wie ihn Jeremy Corbyn treffend charakterisiert hatte, dürfte nach Einschätzung Vieler die Wahl in Schottland sein. Im Mai 2021 wird dort das regionale Parlament gewählt und die Schottische Nationalpartei ist auf dem Weg, diese Wahl deutlich zu gewinnen. Damit flammt die Frage der schottischen Unabhängigkeit neu auf, die 2014 in einem Referendum bereits erledigt schien. Aber Brexit und Corona haben den Independence-Befürwortern nördlich des Limes neuen Schub gegeben. Denn die Entscheidung, die EU zu verlassen, wird dort als durch England oktroyiert wahrgenommen. Denn die Schotten stimmten mit über 60 Prozent für den Verbleib. Gleichzeitig wird misstrauisch beobachtet, dass die Tories den Brexit nutzen, um Selbstverwaltungsrechte der Regionen wieder in London zu zentralisieren. Der Slogan „Taking back control“ bekommt dadurch eine spezifisch englische Note.
Die Möglichkeiten der Selbstverwaltung, die im Vereinigten Königreich selten wahrnehmbar sind, wurden durch Corona für alle sichtbar gemacht. Denn Fragen der öffentlichen Gesundheit werden regional entschieden und hier machte die SNP-Regierungschefin Nicola Sturgeon in Edinburgh einen deutlich besseren Eindruck, als Johnson auf seinem Schlingerkurs. Mit klarer und emphatischer Kommunikation schaffte sie es, den Menschen einerseits Orientierung zu geben und sie andererseits mit in die Verantwortung zu nehmen. Damit war sie bedeutend erfolgreicher, obwohl die Pandemie in Schottland kaum weniger wütete, als in England. In der Bildungspolitik – ein weiteres Feld der Selbstverwaltung – schaffte es die SNP zwar den gleichen Fehler zu begehen, wie die Tories in England: auch hier wurden die Abschlussnoten durch einen Algorithmus negativ verzerrt. Allerdings bewies Sturgeon im Umgang mit diesem Fehler deutlich mehr Geschick als Johnson, indem sie ihn offen eingestand und sich entschuldigte, anstatt die Mutation einer Software als Entschuldigung anzuführen.
Die Krux der Unabhängigkeitsbestrebung ist, dass ein Referendum aus London genehmigt werden muss. Johnson wird also im Mai mit der Schottischen Frage konfrontiert werden. Die reale Gefahr, dass die Union zwischen Schottland und England zerbricht, ist für viele Beobachter der letzte Tropfen, der das Fass an Inkompetenz und Fehlern dieses Regierungschefs zum Überlaufen bringen wird. Sie gehen davon aus, dass Johnson von seiner in diesen Fragen vollkommen skrupelfreien Partei in die Rente geschickt wird und ein anderer sein Glück versuchen darf – der aktuelle Favorit ist Schattenkanzler Rishi Sunak, den die Corona-Konjunkturprogramme sehr populär gemacht haben.
Der manische Fokus auf einem britischen Sonderweg und die Verweigerung des Lernens von Anderen hat in vielen Fällen dazu beigetragen, die Situation zu verschlechtern.
Bei dieser Kalkulation gerät aber ein Aspekt aus dem Blick, der prägend ist für Boris Johnson. Er hat seine Karriere seit 2016 darauf aufgebaut, ein effektiver Kulturkrieger zu sein. Kein anderer Politiker in Großbritannien hat die spaltende Wirkung solcher Auseinandersetzungen besser für sich und seine Partei nutzbar gemacht. Mit dem Brexit hat er eine disparate Koalition geschmiedet, die ihn 2019 mit einer überwältigenden Mehrheit an die Macht getragen hat. Darin finden sich die klassischen betuchten Stammwähler der Tories aus dem Süden Englands, die ehemaligen UKIP-Anhänger von Nigel Farage, die Mehrheit der ländlichen Gebiete, plus ein erheblicher Anteil an ehemaligen Labour-Wählern. Die einzigen verbindenden Elemente dieser sehr unterschiedlichen Gruppen sind ein Patriotismus, der teils in heftigen Nationalismus ausartet, und ein sich vertiefendes Misstrauen gegenüber Eliten und bestehenden Institutionen. Und weil das letztere im Fall des EU-Austritts so wunderbar mit dem ersteren amalgamierte, wird Johnson alles daransetzen, diese Gefühlsgemengelage aufrecht zu erhalten.
Aus diesem Grund forciert er aktuell die Konfrontation mit der EU, denn er braucht den europäischen Sündenbock gut sichtbar im öffentlichen Raum. Der Bruch internationalen Rechts ist dabei Mittel zum Zweck und verdeutlicht seinem Publikum lediglich, wie ernst der Premierminister es meint. Auch die stetige Unterminierung öffentlicher Institutionen wie der BBC, der Gerichtsbarkeit und des öffentlichen Dienstes bedienen das Bild eines Politikers, der es der überheblichen (Londoner) Elite mal so richtig zeigt. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die Überbetonung des Nationalen ein Grund dafür ist, warum die Covid-Krise im Vereinigten Königreich derart desaströse Ausmaße angenommen hat. Der manische Fokus auf einem britischen Sonderweg und die Verweigerung des Lernens von Anderen hat in vielen Fällen dazu beigetragen, die Situation zu verschlechtern.
Von diesen Fehlern muss er schnell ablenken und daher ist Schottland für Johnson eine gemähte Wiese. Er wird die Wahl polarisieren: Hier, die SNP, die sich aus kleinlichen Gründen vom Post-Brexit-Britannien abwenden will und wieder in den Schoß der EU zurückkriechen möchte. Dort, die Tories, die Garanten der jahrhundertealten Union zwischen England und Schottland auf dem Weg zu neuen Ufern des Glücks. Die Debatte wird auf einer fiktional-historischen Ebene stattfinden, abgekoppelt von ganz realen Fragen wie beispielsweise Selbstverwaltungsrechten oder der Währung, die ein unabhängiges Schottland haben sollte. Dieser Kulturkrieg wird Johnson genau recht kommen, wenn das UK aus der EU ausgetreten ist und der Austritt nicht mehr mobilisiert. Schottland wird daher als neues Schlachtfeld herhalten müssen und die SNP wird ihm dabei dankbare Vorlagen liefern. Es ist deswegen viel zu früh, Boris Johnson abzuschreiben. Sein Management der aktuellen Krise ist desaströs und er zeichnet sich weder durch übertriebene Detailkenntnis oder gar Fleiß aus. Aber wenn es darum geht, die populistischen Flammen im Land anzufachen, dürfte es bei den britischen Tories momentan kaum einen besseren geben.
Christos Katsioulis leitet das Büro der FES in London. Zuvor leitete er die Büros der Stiftung in Athen und Brüssel. Er war fünf Jahre als Experte für Außen- und Sicherheitspolitik in der Internationalen Politikanalyse der FES tätig.
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