Hitzewellen
Von Gisbert Kuhn
Erinnert sich noch jemand? Vor 43 Jahren landete Rudi Carrell einen geradezu sagenhaften Hit mit dem Lied „Wann wird es endlich wieder Sommer?“. Leider hat der niederländische Showmaster nicht mehr erlebt, mit welcher Vehemenz sein damaliges musikalisches Stoßgebet jetzt Wirklichkeit geworden ist. „Sonnenschein von Juni bis September…“ – deutsches Herz, was willst Du mehr im von Wärme und Helligkeit durchfluteten Heimatland? Badestrände, Naturseen und Schwimmbäder (na gut, letztere sind gerade aktuell häufig geschlossen wegen vorher offensichtlich nicht absehbaren Personalmangels oder völlig überraschend aufgetretener Reparaturnotwendigkeiten) – wozu also in den Süden reisen und dort an den Erholungsküsten vielleicht sogar durch den Anblick dunkelhäutiger Flüchtlinge belästigt werden? Zumal nicht einmal sicher ist, dass solche störenden und die Urlaubsfreude mindernden Erlebnisse beim Reiseveranstalter kostensenkend gelten gemacht werden können.
Zufrieden, oder lieber doch nicht?
Tatsächlich sind die allermeisten Deutschen mit dem Sonnensommer zufrieden. Sagt zumindest aktuell eine der immer mit Spannung erwarteten und deshalb ja auch ständig erhobenen Meinungsumfragen. Obwohl – beim morgendlichen Brötchenkaufen, im Wartezimmer, beim Friseur und so weiter kann man angesichts der dort geführten witterungspolitischen Kommunikationen Zweifel an der demoskopischen Aussagekraft bekommen. Hier wird eher der kriselnde Kreislauf beschworen und weniger der lustvolle Badespaß. Mag sein, dass schon der kluge Münchener Humorist Karl Valentin (mit „Vau“ auszusprechen, nicht mit „Weh“!) zu seiner Zeit ähnliche verstörende Erfahrungen gemacht hat. Jedenfalls deutet sein weiser Spruch darauf hin: „Sicher ist, dass nichts sicher ist. Darum bleib ich vorsichtshalber misstrauisch“. Sehr viel nüchterner sieht das freilich der irische Spötter George Bernhard Shaw: „Gut, dass es das Wetter gibt. Worüber sollten die Leute denn sonst reden?“
Um noch einmal auf die angebliche Mehrheit der freudigen Sonnenanbeter hierzulande zurückzukommen – es ist kaum anzunehmen, dass bestimmte Berufsgruppen dazu zählen. Ganz zuvorderst die Bauern nicht, die mit teilweise massiven Einbußen rechnen müssen, weil ganz einfach zur rechten Zeit der Regen ausblieb. Oder die Winzer, deren Reben schon jetzt viel zu hohe Oechsle-Grade aufweisen und deshalb vor der eigentlichen Zeit gelesen werden müssen. Das sind bodenständige Menschen, keine Spökenkieker, die immer schnell bei der Hand sind, um finstere Mächte, gierige Geldschneider, politische Hasardeure oder unverwechselbare Anzeichen von bevorstehenden Weltuntergängen für seltene Klima-, Wetter- oder Temperatur-Erscheinungen verantwortlich zu machen.
Und schuld daran ist nur…
Obwohl, so ganz ist das natürlich trotzdem nicht von der Hand zu weisen in diesem, unserem Land. Hatte der geniale holländische Entertainer nicht schon vor nahezu einem halben Jahrhundert in prophetischer Weisheit vorhergesagt, „und schuld daran ist nur die SPD“!? Ok, damals ging es um einen anfangs fies verregneten und dazu auch noch kalten Sommer. Jetzt, hingegen, flirren Hitzewellen durch den Äther. Mit unvergleichbar höheren Energien. Da könnte man durchaus auf die Idee kommen, dass damit sozusagen die Ausläufer der hitzigen Gefechte aus den vergangenen Wochen und Monaten vor allem zwischen den Unions-Schwestern CDU und CSU an Spree und Isar über das Land fliegen. Außerdem, machen wir uns doch nichts vor: Natürlich trägt Angela Merkel, wie an Allem, ein gerüttelt Maß an Schuld auch an der Hitze- und Dürreperiode.
Warum? Ganz einfach. Hat sie denn nicht geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, seinen Nutzen zu mehren und Gerechtigkeit gegenüber jedermann walten zu lassen? Also bitte! Ist es gerecht, wenn bei diesem Wetter Schwimmbäder geschlossen bleiben? Wie sollen die Bauern ihren Nutzen mehren, wenn es nicht regnet? Na gut, einverstanden. Ganz allein ist die Merkel nicht schuld. Da müssen sich natürlich die so genannten Altparteien auch manchen Vorwurf gefallen lassen. Sie, die doch (seit Jahrzehnten schon, sagen wenigstens die wahren Durchblicker) die Bindung zum wirklichen Volk verloren, die Demokratie herunter gewirtschaftet und in Wirklichkeit nur eigene – vor allem wirtschaftliche und finanzielle – Interessen im Sinn haben. Wo waren sie denn, als es in witterungsmäßig feuchten Perioden gegolten hätte, Vorsorge zu treffen für trockene Zeiten? Auf welche Weise? Egal, irgendwie halt. Muss so etwas denn nicht erwartet werden von gewählten Repräsentanten, die nur „dem Volk“ verpflichtet sind und sonst gar niemandem?!
Na bitte. Und nun sage gefälligst keiner, dass dieses „Volk“ ja eigentlich aus hunderttausenden individuellen „Völkern“ besteht, die alle ihre ganz eigenen und speziellen Interessen und Vorstellungen von Gerechtigkeit besitzen. So zu denken, ist kleinkariert. Denn bei nahezu 40 Grad im Schatten schwitzen sie schließlich alle gleich. Und eine Differenzierung zwischen dem (wegen der immensen Umsätze jubelnden) Getränkehändler und dem durstigen Straßenbauer an der Autobahn wollen wir gar nicht erst vornehmen. Obwohl – bei dieser Erlebensbreite hätte man von Angela Merkel natürlich schon erwarten müssen, dass sie zumindest versuchen würde, einen Interessensausgleich zwischen dem Getränkehändler und dem Bauarbeiter herzustellen. Irgendwie. Wegen der Gerechtigkeitslücke.
Am besten macht jeder aus dieser heißen Zeit das, was er selbst für das Beste hält. Ein Pessimist, zum Beispiel, könnte schon die Erkenntnis als Weisheit ansehen: „Hitze mitten im Sommer! Das gab´s noch nie“. Für den Eskimo hingegen ist sowieso klar: „Sommer ist die Jahreszeit des miserablen Schlittenfahrens“. Und damit mag jeder auch diesen Text lesen, wie er es gerade möchte – der (oder die) eine mit Grimm und Ärger, der (oder die) andere vielleicht augenzwinkernd.