Empire verzweifelt gesucht
Großbritannien bewertet seine Stellung in der Welt radikal neu. Überheblichkeit schlägt dabei Realitätssinn – schlechte Nachrichten für Europa.
Werden britische Panzer eingemottet? Wird die Artillerie ausrangiert? Werden Infanterie-Bataillone aufgelöst? Wird es je genügend Kampfjets für den Flugzeugträger geben? Antworten auf diese Fragen gibt die „integrierte Neubewertung“ („integrated review“) für die Außen-, Verteidigungs-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik Großbritanniens. In der von Premierminister Boris Johnson anlässlich des Startschusses im Februar 2020 angekündigten „radikalsten Neubewertung der Stellung Großbritanniens in der Welt seit Ende des Kalten Krieges“ prallt Selbstüberschätzung auf Realität.
Die ursprüngliche Vision hatte der mittlerweile entlassene Downing-Street-Berater Dominic Cummings vorangetrieben. Sie sah vor, dass das Vereinigte Königreich den Brexit für den Aufstieg zur Weltmacht nutzt, indem es eine „Billionen Dollar starke“ Technologieindustrie unterstützt und in die Kriegsführung im Weltraum einsteigt. Gleichzeitig sah Cummings die Einstellung konventioneller Verteidigungs-Programme vor, mit denen „Milliarden von Pfund verschleudert und einige der schlimmsten Raffzähne der Wirtschaft reich gemacht werden“.
Von derselben Gesinnung kündete Johnsons Versprechen, das er Anfang Februar letzten Jahres im symbolträchtigen Ambiente des Old Royal Naval College aus dem 18. Jahrhundert abgab: Er werde verhindern, dass eine Überreaktion auf Covid-19 einem neuen merkantilistischen, global ausgerichteten Großbritannien im Wege stehe.
Nach Beginn der Pandemie im März wurde die integrierte Neubewertung allerdings auf Eis gelegt. „Sie haben gedacht“, erklärte ein Insider, „sie könnten die Streitkräfte völlig neu aufstellen, ohne Industrie und Verwaltung zu beteiligen, haben aber gemerkt, dass das nicht geht“.
Als der Prozess im Herbst wieder in Gang kam, unterlag das Verfahren Beamten und Führungspersonen im Verteidigungsapparat. Das geopolitische Prinzip blieb jedoch unberührt. Johnson hat sich mittlerweile auf den PR-Slogan „globales Großbritannien“ verlegt. Dieser hatte im Wahlkampf zum Brexit-Referendum 2016 die Leave-Kampagne geprägt, um dem Vorwurf einer „Little England“-Mentalität zu begegnen und stattdessen Empire-Nostalgie heraufzubeschwören. Die „integrierte Neubewertung“ sollte daher auch die britische Verteidigungspolitik auf dieses Ziel hin neu ausrichten.
Hier ergibt sich das Bild einer mittleren Macht, die ohne realistisches Budget noch immer globale Ambitionen verfolgt.
Herauskommen werden vermutlich die neuerliche Betonung der Seemacht Großbritannien, das erklärte Ziel, sich mit einer neuen Flugzeugträger-Kampfgruppe an Operationen unter US-Führung zu beteiligen, um im südchinesischen Meer und in der Arktis freie Schifffahrt zu sichern, und eine Reduzierung der Truppenstärke. Verkauft wird das alles als „Hinwendung zur indo-pazifischen Region“ und als Abkehr von britischer Kooperation mit Europa.
Die britischen Streitkräfte haben nach Jahrzehnten der Kürzungen bereits 9 000 Truppenangehörige zu wenig. Berichten zufolge soll die Truppenstärke weiter reduziert werden; vier Einheiten ohne militärische Spezialisierung, die abwertend als „Fish-and-Chips-Regimenter“ bezeichnet werden, sollen mit anderen zusammengelegt werden. Dazu kommt, dass dem britischen Rechnungshof National Audit Office zufolge der Ausrüstungsetat des Verteidigungsministeriums langfristig einen Fehlbetrag von bis zu 17 Milliarden Pfund aufweist, obwohl im November 2020 bereits 16,5 Milliarden Pfund vor allem für den Kauf bereits zugesagter Fregatten zugeschossen wurden.
Hier ergibt sich das Bild einer mittleren Macht, die ohne realistisches Budget noch immer globale Ambitionen verfolgt. In diesem Bild spiegelt sich recht genau der Zustand der Regierung Johnson, ja das gesamte Dilemma, in dem sich Großbritannien nach dem Brexit befindet.
In sämtlichen Neubewertungen für Sicherheit und Verteidigung, die in den letzten Jahren vorgenommen wurden, übersahen die britischen Planer die aufziehenden Gefahren: erst Al-Kaida und den IS, dann das militärische Aggressionspotenzial und die „hybride“ Kriegsführung der Russen sowie die Wandlung Chinas vom gutmütigen Handelspartner zum Cyber-Aggressor. Das Risiko einer Pandemie wurde im Jahr 2015 zwar als „Stufe eins“-Bedrohung erkannt, konkrete Vorbereitungen schob man jedoch auf die lange Bank.
Die dargelegten Bedrohungen wurden auf das überhebliche Konzept einer „globalen Reichweite“ zugeschnitten.
Die in den Berichten dargelegten Bedrohungen wurden stattdessen auf das überhebliche Konzept einer „globalen Reichweite“ zugeschnitten (die vor dem Motto „globales Großbritannien“ als Slogan der Verteidigungspolitik diente). Unter Premierminister David Cameron beschloss die Regierung ohne maßgebliche politische Debatte die Wiederaufnahme von routinemäßigen Operationen „östlich des Suez“; man eröffnete einen Marinestützpunkt in Bahrain, ordnete die Streitkräfte um „Strike Brigades“ an und setzte statt auf Ketten- auf Räderfahrzeuge, die für Auslandseinsätze besser geeignet sind.
Dass die Briten, „ein bisschen von allem machen“ und sich das Vermögen bewahren wollten, „überall“ aktiv zu werden, dürfte die Aufstellung einer auf Kriegshandlungen im europäischen Umfeld spezialisierten Division verhindert haben, die seit 2015 eigentlich ein erklärtes Ziel der Militärplaner ist. Hätte die integrierte Neubewertung transparent und unter Beteiligung von Parlament und Öffentlichkeit stattgefunden, hätte sie eine Chance bieten können, sich dieser strategischen Realität ehrlich zu stellen.
Großbritannien ist eine mittlere Militärmacht am Rande Europas. Neben Frankreich verfügt es als einziger europäischer Staat nicht nur über Atomwaffen, sondern auch über die Fähigkeit und historische Bereitschaft, in Kriegszeiten ernstzunehmende multinationale Operationen durchzuführen. In der konventionellen Abschreckung gegen russische Angriffe in der Ostsee engagiert sich Großbritannien an vorderster Front. Mit Öffnung der arktischen Handelskorridore wird in der integrierten Neubewertung sicher auch die Notwendigkeit britischer Operationen in der Arktis herausgestellt.
Vor Veröffentlichung des Berichts über die integrierte Neubewertung hat die Labour-Opposition ungewöhnlich offen gefordert, die Verteidigungsstrategie auf Europa auszurichten.
Wenn Logik über Größenwahn siegen würde, müssten die unterfinanzierten und überlasteten britischen Streitkräfte durch eine Neustrukturierung in die Lage versetzt werden, in der NATO und in Europa eine Führungsrolle zu übernehmen. Unabhängig davon, was US-Präsident Joe Biden im Pazifik tut und was gerade an der indisch-chinesischen Grenze im Himalaya geschieht, sollte der Bevölkerung vermittelt werden, dass geopolitisch der Schwerpunkt der britischen Verteidigungspolitik in Europa liegen sollte.
Doch das wird vermutlich nicht geschehen. Johnson ist offenbar entschlossen, den neuen Flugzeugträger Queen Elizabeth II., der pro Fahrt 600 Millionen Pfund verschlingt, zur chinesischen Küste zu entsenden, ausgestattet mit F-35-Kampfjets, die man sich vom US Marine Corps ausgeliehen hat, beschützt von Fregatten, deren Seezielflugkörper eine „Zwischenlösung“ darstellen, weil nach Kürzungen im Verteidigungsetat die ursprünglichen Raketen auf der Strecke geblieben sind, ohne dass Ersatz eingeplant wäre.
Vor Veröffentlichung des Berichts über die integrierte Neubewertung hat die Labour-Opposition ungewöhnlich offen gefordert, die Verteidigungsstrategie auf Europa auszurichten. Schatten-Verteidigungsminister John Healy erklärte letzten Monat gegenüber dem Royal United Services Institute, der Wettstreit zwischen den USA und China wirke sich zwar auf die nationale Sicherheit Großbritanniens aus, doch „im Prinzip ist das ein Kampf der Großmächte“. Er fuhr fort: „Während die USA umschwenkt, um die langfristigen Herausforderungen durch China zu meistern, wird die führende militärische Rolle Großbritanniens in Europa immer wichtiger.“
Ich würde es noch klarer formulieren. Die eigentliche strategische Bedrohung für die Sicherheit Großbritanniens liegt in der Auflösung der regelbasierten globalen Ordnung. Sollte das regelbasierte globale System zusammenbrechen, gibt es dafür keine militärische Lösung; allerdings müssten sich alle westlichen Demokratien mit höheren Sicherheitsprioritäten neu aufstellen. Das Vereinigte Königreich hat als Seemacht und mit Blick auf seine stark globalisierte Versorgungskette ein starkes Interesse an der Aufrechterhaltung dieser Ordnung.
Doch Gründungsmythos der Regierung Johnson ist der regelzerstörende Akt des Brexit.
Dass Johnson mehrfach demonstrativ Regeln gebrochen hat, belegt, dass er die tatsächliche Gefahr für die strategischen Interessen Großbritanniens nicht erkennt.
Als das Vereinigte Königreich der Europäischen Union und vor allem der Kooperation im Bereich Sicherheit und Verteidigung den Rücken kehrte, fügte es der regelbasierten Ordnung großen Schaden zu. Großbritannien hat den Zugang zum Satellitennavigationssystem Galileo verloren. Und auch wenn die integrierte Neubewertung den Kauf von Hunderten in Europa entwickelten und hergestellten Boxer-Radpanzern vorsieht, ist das Land an diesem Projekt industriell nicht beteiligt, weil es sich schon vor langem daraus zurückgezogen hat.
Zwar sind die Verwerfungen durch den Brexit in der Fischindustrie und an der neuen Handelsgrenze in der Irischen See bereits jetzt zu spüren, doch wird es Jahre dauern, bis sich alle geopolitischen Folgen zeigen, wenn etwa Großbritannien an größeren europäischen Verteidigungsprojekten nicht teilnimmt, im Konflikt um Territorialrechte in Griechenland und Zypern keine Mitsprache hat und dem entstehenden europäischen Projekt für kollektive Sicherheit distanziert gegenübersteht.
Dass Johnson mehrfach demonstrativ Regeln gebrochen hat, etwa in den Brexit-Verhandlungen Ende 2020 und nun wieder im Ringen um die innerstaatliche Handelsgrenze, belegt, dass er die tatsächliche Gefahr für die strategischen Interessen Großbritanniens nicht erkennt: In einer Welt ohne Regeln müsste sich das Land allein durchschlagen. Mit dem Irlandfreund Biden im Weißen Haus und dem frankophilen Außenminister Antony Blinken wird sich das Vereinigte Königreich nach der integrierten Neubewertung auf dem völlig falschen Pfad befinden. Großbritannien muss Waffenexporte nach Saudi-Arabien rechtfertigen, nachdem Biden den Hahn zugedreht hat, und bleibt bei seiner unterwürfigen Haltung gegenüber dem saudischen Königshaus, während die USA ihre Beziehungen gerade grundlegend überdenken.
Großbritannien braucht Streitkräfte, die ihren Aufgaben gerecht werden können; dazu gehört die Abschreckung gegen die konventionelle Aggression der Russen in der Ostsee, in den baltischen Staaten und im Nordatlantik, aber auch die Bewältigung von Pandemien und Klimaereignissen im eigenen Land und humanitären Krisen im Ausland. Diese Streitkräfte müssen ebenso bereitwillig mit europäischen Armeen und dem Kommandozentrum der EU kooperieren wie mit der NATO und dem US-Militär. Das ist keine Politik, sondern eine geopolitische Tatsache. Leider steht die Politik der Akzeptanz dieser Tatsache im Weg.
Aus dem Englischen von Anne Emmert
Paul Mason ist Autor und Fernsehjournalist. Sein Buch Postkapitalismus: Grundrisse einer kommenden Ökonomie erschien 2016, Klare, lichte Zukunft – Eine radikale Verteidigung des Humanismus erschien 2019.
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