Ein banges Europa im Zangengriff der USA und Chinas? Das muss nicht sein. Wir haben der Welt eine starke Alternative zu bieten.

Europa muss den eigenen „Raum“ gestalten. © TheAndrasBarta auf Pixabay.com

In Zeiten der Corona-Pandemie, die mit einem Schlag unsere hochkomplexe und vernetzte Welt zum Stillstand gebracht hat, werden alle anderen Themen überlagert. Das, was uns noch vor wenigen Wochen bewegt hat, fühlt sich an, als wäre es Jahre her. Verschwunden aber ist es deswegen nicht.

Erinnern wir uns: Zu Beginn eines jeden Jahres sind die beiden tonangebenden internationalen Großkonferenzen – das Weltwirtschaftsforum in Davos und die Münchner Sicherheitskonferenz – gute Seismografen für die Stimmungen in den außen- und wirtschaftspolitischen Communities. Covid-19 war (scheinbar) noch weit weg und ein lokales Problem einer der Millionenstädte in China. Aber auch so hatte man mit der internationalen Schlechtwetterfront genug zu tun: Der INF-Vertrag über das Verbot landgestützter atomarer Kurz- und Mittelstreckenwaffen ist seit Sommer 2019 Geschichte, das Atomabkommen mit dem Iran kaum mehr zu retten, Großbritannien nicht mehr länger Mitglied der Europäischen Union und der Streit darüber, wer wem Technologie und Energie liefern darf, eskaliert.

Blieb schon vorher wenig Raum für Optimismus in den internationalen Beziehungen, so scheint die Pandemie nun einige Dynamiken in den internationalen Beziehungen noch zu verstärken. Das gilt auch für die zunehmende Verbindung von Wirtschafts- und Sicherheitspolitik.

Die „westlessness“, der Zeitgeistbefund der diesjährigen Sicherheitskonferenz, schlägt sich am deutlichsten in der globalen Wirtschaftspolitik nieder.

Lange wurde in München und Davos zwar eifersüchtig darauf geachtet, wer die größere politische Prominenz willkommen heißen darf, aber ansonsten blieben die Konferenzen in ihren eigenen Welten. Das dürfte sich künftig ändern. Mit der größeren Bedeutung von Wirtschaft als Machtfaktor wird bei den Großmächten schon heute kaum noch zwischen Sicherheits- und Wirtschaftspolitik unterschieden.

Während bei der Sicherheitskonferenz schon länger die „kommende Anarchie“ (Robert Kaplan) auf dem Programm steht und vor allem immer mehr Krisen im Bayrischen Hof heimisch wurden, konnte man in Davos trotz Finanz- und Gerechtigkeitskrisen noch auf die (westliche) liberale Wirtschaftsordnung bauen: Der Welthandel nahm ebenso zu wie die globalen Lieferketten. Regelverstöße wurden bis vor kurzem noch effizient durch die Welthandelsorganisation (WTO) geahndet. Selbst wenn die Welt in Aufruhr war, galt vielen die extrem vernetzte globale Ökonomie als robuster Klebstoff, die Freund und Feind zusammenhält. Jetzt, wo die Lieferketten gekappt sind, Exportstopps ausgesprochen, die weltweiten Abhängigkeiten und Verletzlichkeiten deutlicher werden und die globale Ökonomie selbst in Quarantäne ist, gibt es diese Ökonomie, zumindest zunächst, nicht mehr.

Dass sich hier etwas verschiebt, ist schon länger offensichtlich. Die „westlessness“, der Zeitgeistbefund der diesjährigen Sicherheitskonferenz, schlägt sich am deutlichsten in der globalen Wirtschaftspolitik nieder. Dies betrifft zunächst den Bedeutungsverlust des Westens (und seiner Ordnung) angesichts des ökonomischen Aufstiegs Chinas und anderer asiatischer Länder. Der Handelsstreit mit den USA, aber auch der Umgang mit China offenbart zugleich, dass man sich auch im transatlantischen Bündnis und innerhalb der EU über die gemeinsamen Werte nicht mehr einig ist.

Die Folgen der Verquickung von wirtschafts- und sicherheitspolitischen Interessen und Strategien treffen auch zunehmend die EU. Vor allem die robusten Durchsagen von jenseits des Atlantiks irritieren.

Dass sich nun eine härtere Gangart in der globalen Ökonomie durchsetzt, liegt vor allem daran, dass die USA und China, aber auch Russland, das ganze Arsenal an wirtschaftspolitischen Instrumenten – Strafzölle, Sanktionen, Rohstoffkontrolle, Investitionen in Infrastruktur und Kreditvergaben – einsetzen, um damit Geländegewinne im Kampf um politischen Einfluss zu erzielen. Mit Protektionismus ist das nur milde umschrieben. Denn tatsächlich geht es um die globale Kontrolle von Handels-, Daten-, Energie- und Finanzströmen, um auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen.

Die Folgen dieser Verquickung von wirtschafts- und sicherheitspolitischen Interessen und Strategien treffen auch zunehmend die EU. Vor allem die robusten Durchsagen von jenseits des Atlantiks irritieren. So bedeutet „America first“ nicht nur den Rückzug einer Ordnungsmacht, die immer weniger Lust dazu hat, sich bei Konflikten in Europas Nachbarschaft zu engagieren.

Zugleich bekam die EU die neue ökonomische Abschreckungsdoktrin gleich mehrfach zu spüren: In der Handelspolitik erklärte Trump die EU zum Feind – und dies nicht mit Blick auf die aus Sicht der USA ohnehin viel zu leeren militärischen Arsenale in Europa, sondern aufgrund der geringen Exportzahlen amerikanischer Autos. Um nach der Aufkündigung des Atomabkommens den (Öl-)Handel mit dem Iran insgesamt zu unterbinden, machten sich die USA die Dominanz des Dollars als weltweite Reservewährung zunutze. Und mit dem „Gesetz zum Schutz von Europas Energiesicherheit“ griffen die USA direkt in den Streit über die Gaspipeline NordStream 2 ein und drohten, um die Fertigstellung noch zu stoppen, den beteiligten Unternehmen und Personen Sanktionen an. Durchaus erfolgreich übrigens. Wie schnell Produkte strategisch werden, ließ sich jüngst auch am versuchten US-amerikanischen Zugriff auf das Tübinger Unternehmen Curevac beobachten.

China hat in den amerikanischen Sicherheitsdoktrinen mittlerweile den „war on terror“ als wichtigste Herausforderung abgelöst.

In Europa gibt man sich gerne der Illusion hin, dass dies alles der Exzentrik des amerikanischen Präsidenten entspringt. Doch das ist ein Trugschluss. Es gibt nur wenige Punkte, bei denen sich die Republikaner und die Demokraten zurzeit einig sind. Darin aber, dass ökonomische Kräfteverschiebungen mehr denn je sicherheitspolitisch relevant sind, stimmen sie durchaus überein. Wer dann eins und eins zusammenzählt, der kommt schnell auf China, das in den amerikanischen Sicherheitsdoktrinen mittlerweile den „war on terror“ als wichtigste Herausforderung abgelöst hat.

Im süd- und ostchinesischen Meer hat die Volksrepublik gezeigt, dass sie im Konfliktfall auch aggressivere militärische Töne anschlagen kann. Sie modernisiert ihre Waffenarsenale und baut sie aus, und sie erzielt weiterhin hohe Handelsbilanzüberschüsse gegenüber den USA. All diese Entwicklungen tragen dazu bei, dass China in den Fokus der USA geraten ist. Die Schutzzölle, die zwischenzeitlich Güter im Handelswert von 550 Milliarden Dollar betrafen, wurden mit der Gefährdung der nationalen Sicherheit begründet.

Am stärksten bedroht sehen sich die USA jedoch in ihrer digitalen Einflusssphäre. Auf der Sicherheitskonferenz warnte die Sprecherin des demokratisch geführten Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, deshalb noch einmal eindringlich vor einer „Sinifizierung“ der digitalen Netze. Der Westen, so Pelosi, müsse auch im Netz verteidigt werden. Und mit dem Einsatz von Technologie des chinesischen Netzausrüsters Huawei würden zugleich autokratische Werte eingekauft.

Beide Seiten, China und die USA, erwarten von den europäischen Ländern eine Entscheidung, die, je nachdem wie sie ausfällt, dann auch ökonomisch oder politisch vergolten wird.

Der Streit steht beispielhaft für das, was mit Blick auf die chinesisch-amerikanische Rivalität auf Europa künftig zukommen könnte. Denn hier geht es nicht nur um Spionage, sondern um die Frage, wer künftig die Netze und ihre wichtigsten Technologien kontrolliert. China und die USA teilen sich heute nicht nur den Löwenanteil der digitalen Märkte, sondern verfügen auch über 75 Prozent der öffentlichen Cloud-Kapazitäten sowie über die wenigen Digitalkonzerne, die das Kapital und die Datenmasse für die Weiterentwicklung von künstlicher Intelligenz aufbringen können.

Beide Seiten erwarten von den europäischen Ländern eine Entscheidung, die, je nachdem wie sie ausfällt, dann auch ökonomisch oder politisch vergolten wird. Eine gemeinsame Antwort an die USA und China fällt der EU jedoch schwer. Denn jedes Land verfolgt seine eigene, durchaus unterschiedliche Digitalstrategie und erschwert damit nicht nur den Aufbau „europäischer Champions“, sondern auch eine intensive Kontrolle der Anbieter.

Auch an anderer Stelle bräuchte es Einigkeit innerhalb der EU. Denn die langen Wege der „Belt and Road Initiative“, der neuen Seidenstraßeninitiative, reichen bereits bis nach Triest und Duisburg-Rheinhausen. Mit einem geplanten Investitionsvolumen, das mit einer Billion US-Dollar ungefähr zehnmal so groß wie der Marshallplan ist, und über eigene Entwicklungsbanken versucht China nicht nur, Absatzmärkte zu erschließen und Rohstoffvorkommen zu sichern. Das eigentliche strategische Projekt ist die Etablierung von chinesischen Standards für eine neue Wirtschaftsordnung.

Wie soll sich die EU in dieser Welt der „Frenemies“ verhalten, der doppelgesichtigen Freund-Feind-Partner, mit denen eine Zusammenarbeit unverzichtbar ist, die jedoch immer schwieriger wird?

Italien hat als erstes G7-Land ein Memorandum mit China unterschrieben, Griechenland und Ungarn haben, z.B. in Menschenrechtsfragen, bereits zugunsten Chinas interveniert. Auch die neue „Maskendiplomatie“ Chinas bewegt sich entlang der Seidenstraße, und über das „17+1-Forum“ berät China zahlreiche zentral- und osteuropäische Länder in der Coronakrise.  

Wie soll sich die EU in dieser Welt der „Frenemies“ verhalten, wie die ZEIT jüngst titelte, der doppelgesichtigen Freund-Feind-Partner, mit denen eine Zusammenarbeit unverzichtbar ist, die jedoch immer schwieriger wird? Kurzfristig wird die Pandemie in allen Camps der internationalen Politik, die gerne der Welt mit großen Strategien über die Straße helfen wollen, für die Bestätigung ihrer jeweiligen Argumente herangezogen werden. Vor allem wird hier – angesichts der Komplexität – die Sehnsucht nach deutlicheren Konturen und neuen Feinbildern, die Orientierung versprechen (und vor allem die Wählerbasis mobilisieren), wachsen.

Dem Drang nach neuer Klarheit entspringen auch die immer wieder neu aufgelegten Debatten über „geopolitisches Denken“. „Weltpolitikfähig“ kann die EU nach dieser Lesart nur dann werden, wenn sie die neuen geopolitischen Realitäten anerkennt (was richtig, aber zumindest widersprüchlich ist) und dann auch selbstbewusster „geopolitisch handelt“ (was meistens vage bleibt). Sollen eine Anverwandlung Europas, das Denken in Einflusssphären und Abgrenzung nun tatsächlich die Ausgangspunkte für Europas neue Rolle in der Welt sein? Wohl kaum. Mit dem Postulat einer „geopolitischen Kommission“ ist also noch nichts gewonnen.   

Sich aus dem Zangengriff zwischen dem Zugang zum Zukunftsmarkt China und der ökonomischen Sicherheitspolitik der USA zu befreien, ist keine einfache Aufgabe für die EU.

Sich aus dem Zangengriff zwischen dem Zugang zum Zukunftsmarkt China und der ökonomischen Sicherheitspolitik der „unverzichtbaren Nation“ (Madeleine Albright) zu befreien, ist keine einfache Aufgabe für die EU. Aber die EU sollte auch nicht in Angststarre verfallen, denn sie kann allen Unkenrufen zum Trotz einiges in die Waagschale werfen.

Erstens ist die EU durch ihre permanente Kompromissakrobatik zwischen den jetzt 27 Mitgliedstaaten geradezu prädestiniert, in einer ambivalenten und von Misstrauen regierten Welt nach gemeinsamen Interessen zu fahnden. Statt einer Geografie der Abgrenzung das Wort zu reden, muss sich Politik wieder stärker der Vertrauensbildung annehmen. Denn nach innen ist Vertrauen die Vorbedingung für eine geschlossene Haltung der EU und nach außen ist sie die Grundlage jeder Kooperation. Auf Befreiungsschläge sollte besser keiner setzen.

Im Handgemenge mit den Mehrdeutigkeiten der konkreten Welt kommt es immer auch auf die kleinen, jedoch richtigen Schritte an. Statt sich in der scheinbaren Eleganz einer „grand strategy“ zu verlieren, muss eine konkrete, aktive und präventive Diplomatie betrieben werden, die Verantwortung übernimmt und sich auf die Suche nach pragmatischen „Inseln der Kooperation“ macht. Sie könnte jetzt damit beginnen, mit den USA und China eine internationale Koordinierung der Impfstoffforschung und der klinischen Tests anzuführen, die Lieferketten für wichtige medizinische Produkte sicherzustellen und sie als öffentliche Güter zu erklären und gemeinsam mit den internationalen Organisationen Hilfe zu organisieren. Ausgehend davon wird es dann darum gehen, die Weltwirtschaft wieder zum Laufen zu bringen. Dass dies nur gemeinsam (und mit neuen Regeln) passieren kann, ist offensichtlich.

Eines können wir über die Covid-19-Krise mit Sicherheit heute schon sagen: Die Rede von der politischen Alternativlosigkeit ist spätestens jetzt nicht mehr haltbar.

Auch global braucht es einen „whatever it takes“-Ansatz. In der G20 wird es nicht nur darum gehen, fiskal- und geldpolitische Maßnahmen abzustimmen, sondern auch um Fragen, wie die handelspolitischen Beziehungen wieder aufgenommen und Regeln angepasst werden können und Entwicklungsländer dabei unterstützt werden können, die Pandemie einzudämmen.

Es ist entscheidend für Europas künftige Rolle in der Welt, ob es gelingt, jetzt den eigenen „Raum“ zu gestalten. So muss der von der Kommission angekündigte Green New Deal  CO2-neutral, sozial gerecht und solidarisch zwischen den Mitgliedstaaten umgesetzt werden, mit einem innovativen und starken gemeinwohlorientierten Sektor. Scheitert er, dann wird der Plan zum nächsten (sozialen) Spaltpilz für die europäischen Gesellschaften und schürt weiter das Misstrauen der von Kohle abhängigen osteuropäischen Mitgliedstaaten. Gelingt er jedoch, dann hat Europa ein Projekt, das es ökonomisch mit den USA und China aufnehmen und die globalen Märkte prägen kann, das eigene technologische Innovationen befördert, gute Arbeit und Anlagemöglichkeiten schafft, die die globale Rolle des Euro stärken.

Anders als nach der Finanzkrise 2008 gäbe es für neue Liquidität auf den Kapitalmärkten dann auch attraktive Investitionsmöglichkeiten in der Realökonomie. Und schließlich wäre ein solches Projekt eine „praktische Utopie“, eine Verbindung von strahlkräftigen Langfristzielen und konkreten aktuellen Vorhaben, die Orientierung gibt, für die es sich einzusetzen lohnt und die Menschen, Institutionen und Wirtschaft gerade in Krisenzeiten zu weiterreichenden Ansätzen motiviert. Denn eines können wir über die Covid-19-Krise mit Sicherheit heute schon sagen: Die Rede von der politischen Alternativlosigkeit ist spätestens jetzt nicht mehr haltbar.

Jochen Steinhilber leitet das Referat Globale Politik und Entwicklung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Zu seinen Arbeits-schwerpunkten zählen die internationale Entwicklungsagenda, sozial-ökologische Transforma-tionsprozesse sowie Fragen der globalen Ökonomie. 

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