Politik: 50 Jahre Stammheimer Prozess
von Sepp Spiegl
50 Jahre Stammheimer Prozess – Recht, Revolution und Republik im Ausnahmezustand

Am 21. Mai 1975 begann im eigens gesicherten Hochsicherheitsgerichtssaal des Gefängnisses Stuttgart-Stammheim einer der bedeutendsten und umstrittensten Strafprozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte: der Prozess gegen die führenden Mitglieder der ersten Generation der Rote Armee Fraktion (RAF). Was als juristische Aufarbeitung einer Serie schwerer Anschläge begann, wurde schnell zu einem politischen und gesellschaftlichen Drama, das die junge Bundesrepublik in ihren Grundfesten erschütterte.
50 Jahre später wirft der Stammheimer Prozess noch immer Fragen auf – zur Rolle des Rechtsstaats in Krisenzeiten, zur Grenze zwischen Verteidigung und politischer Instrumentalisierung, und zur historischen Bewertung des radikalen Widerstands. Inmitten von Terror, ideologischer Verblendung und staatlicher Härte spiegelte sich in Stammheim das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und innerer Bedrohung.
Der Hintergrund: Die erste Generation der RAF
Die Bundesrepublik Deutschland befand sich Ende der 1960er-Jahre in einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel. Viele junge Menschen begannen, das politische System, die Restauration der Nachkriegszeit und die mangelnde Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zu hinterfragen. Es entstand eine breite außerparlamentarische Opposition (APO), die sich gegen den autoritären Staat, den Vietnamkrieg, die Springer-Presse und soziale Ungleichheit wandte. Im Umfeld der APO radikalisierten sich einige Gruppen. Die RAF ging aus diesem Milieu hervor, betrachtete sich aber nicht nur als politisch radikal, sondern als bewaffnete Avantgarde, die mit Gewalt das kapitalistische System bekämpfen wollte. Sie verstand sich als Teil des internationalen antiimperialistischen Kampfes und sah die Bundesrepublik als „imperialistischen Unterdrückungsstaat“.
Die RAF wurde offiziell im Frühjahr 1970 gegründet, nachdem Andreas Baader aus der Haft befreit wurde – eine Aktion, bei der Ulrike Meinhof eine zentrale Rolle spielte. Die wichtigsten Gründungsmitglieder waren:
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Andreas Baader – der charismatische, aber impulsive Anführer,
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Gudrun Ensslin – radikalisiert durch das politische Versagen gegenüber dem Vietnamkrieg und die Brandanschläge von 1968,
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Ulrike Meinhof – einst prominente linke Journalistin, die sich ideologisch und existenziell der Gewalt verschrieb,
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Jan-Carl Raspe, Holger Meins, Irmgard Möller, u.a.
Zunächst flüchtete die Gruppe in den Nahen Osten, wo sie in Palästinenserlagern der PFLP eine militärische Ausbildung erhielt. Danach begann sie ihren bewaffneten Kampf in Westdeutschland.
Die Taten der ersten RAF-Generation (1970–1972)
Die erste Generation der RAF verübte in dieser Zeit zahlreiche Anschläge, Banküberfälle und Attentate. Ihre Aktionen richteten sich gegen den „Staatsapparat“ – Justiz, Polizei, Wirtschaft und US-amerikanische Einrichtungen.
1. Banküberfälle (1970–1972)
Zur Finanzierung ihres Untergrundkampfes führte die RAF zahlreiche bewaffnete Banküberfälle durch. Diese dienten nicht nur dem Geld, sondern auch der symbolischen Propaganda gegen den „kapitalistischen Besitz“.
2. Brandanschläge (1968–1970)
Schon vor der Gründung der RAF waren einige spätere Mitglieder aktiv. Besonders bekannt war der Brandanschlag auf zwei Kaufhäuser in Frankfurt am Main am 2. April 1968, den Ensslin und Baader gemeinsam mit anderen verübten. Sie wollten damit auf die Gleichgültigkeit gegenüber dem Vietnamkrieg aufmerksam machen. Dieser Anschlag gilt als ideologischer Vorläufer der RAF-Taten.
3. Bombenanschläge (1972 – „Mai-Offensive“)
Im Mai 1972 verübte die RAF ihre folgenschwersten Anschläge. Diese Eskalation war Ausdruck der zunehmenden Gewaltbereitschaft und strategischen Ausrichtung auf „militärische Aktionen“:
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11. Mai 1972 – Springer-Verlag Hamburg: Zwei Bomben verletzten 17 Menschen. Ziel war die als reaktionär empfundene Medienmacht.
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12. Mai 1972 – Hauptquartier der US-Armee in Frankfurt: Ein Sprengsatz tötete einen US-Offizier und verletzte weitere. Symbolischer Angriff gegen den US-Imperialismus.
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15. Mai 1972 – LKA München: Drei Menschen wurden verletzt.
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19. Mai 1972 – Axel-Springer-Hochhaus in Hamburg: Erneut ein Angriff auf die Presse.
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24. Mai 1972 – Bundeskriminalamt in München: Drei Tote und viele Verletzte – ein besonders brutaler Anschlag.
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Sprengstoffanschläge auf das US-Hauptquartier in Heidelberg – drei amerikanische Soldaten starben.
Diese Anschläge zeigten die Brutalität und Entschlossenheit der RAF. Sie lösten große gesellschaftliche Debatten und scharfe Reaktionen des Staates aus.
4. Ermordung von Polizisten
Beim Versuch, Mitglieder der RAF zu verhaften, kam es mehrfach zu Schusswechseln mit der Polizei, u.a.:
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2. März 1972: Bei einer Schießerei in einem Frankfurter Wohnhaus stirbt ein Polizist.
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Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Holger Meins wurden am 1. Juni 1972 in Frankfurt gefasst.
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Gudrun Ensslin am 7. Juni 1972 in Hamburg.
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Ulrike Meinhof am 15. Juni 1972 in Hannover.Mai 1972: Bei der Verhaftung von Holger Meins, Baader, Raspe u.a. werden mehrere Beamte verletzt.
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Die Verhaftungen (1972)
Im Sommer 1972 gelang es den Behörden durch intensive Fahndungserfolge, fast die gesamte Führungsriege der RAF festzunehmen:
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Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Holger Meins wurden am 1. Juni 1972 in Frankfurt gefasst.
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Gudrun Ensslin am 7. Juni 1972 in Hamburg.
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Ulrike Meinhof am 15. Juni 1972 in Hannover.
Die Verhaftung der RAF-Spitze war ein massiver Schlag gegen die Organisation. Doch auch aus der Haft heraus übten die Inhaftierten politischen Einfluss aus und wurden zu Symbolfiguren der „urbanen Guerilla“.
Tod von Holger Meins (1974)

Im November 1974 starb Holger Meins nach einem langanhaltenden Hungerstreik im Gefängnis an Unterernährung. Er wurde zum Märtyrer der linken Szene. Sein Tod radikalisierte viele Sympathisanten und trug dazu bei, dass sich eine zweite Generation der RAF formierte, die sich stärker auf gewaltsame Aktionen zur Befreiung der Stammheim-Gefangenen konzentrierte.
Bilanz der ersten Generation
Zwischen 1970 und 1972 verübte die erste RAF-Generation:
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über 30 Banküberfälle,
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mehr als ein Dutzend Sprengstoffanschläge,
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mehrere Morde an Polizisten und US-Soldaten.
Ziel war es, durch „bewaffneten Kampf“ eine revolutionäre Bewegung auszulösen. Dieses Ziel wurde jedoch nicht erreicht – die RAF isolierte sich zunehmend politisch und gesellschaftlich, wurde zum Terrorobjekt des Staates und zur moralischen wie rechtlichen Herausforderung für die Demokratie. Die RAF verstand ihre Aktionen stets als Teil eines größeren politischen und historischen Projekts: die Überwindung des Kapitalismus, die Solidarität mit unterdrückten Völkern und der Kampf gegen Faschismus und Kolonialismus. Doch die realen Konsequenzen waren Tod, Angst, Zerstörung – und ein tiefes Misstrauen der Gesellschaft gegenüber radikaler Ideologie.
Der Prozessbeginn in Stuttgart-Stammheim
1. Beginn und Rahmenbedingungen
Der Prozess gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe begann am 21. Mai 1975 vor dem 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart. Da der Staat mit Anschlägen und Fluchtversuchen rechnete, fand der Prozess in einem speziell errichteten, hochgesicherten Gerichtssaal innerhalb des Gefängnisses Stuttgart-Stammheim statt.
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Vorsitzender Richter: Dr. Theodor Prinzing
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Ankläger: Bundesanwalt Siegfried Buback (bis 1977)
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Verteidiger u. a.: Otto Schily, Hans-Christian Ströbele, Klaus Croissant
Die Angeklagten mussten sich wegen mehrerer Morde, versuchten Mordes, Sprengstoffanschlägen, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (§129 StGB) und anderer Delikte verantworten.
2. Die Angeklagten und ihr Verhalten
Von Beginn an verhielten sich die Angeklagten konfrontativ und politisch agitierend. Sie verweigerten Aussagen, unterbrachen die Verhandlung mit politischen Tiraden und diffamierten das Gericht, insbesondere den Vorsitzenden Richter.
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Andreas Baader zeigte sich arrogant, provozierte gezielt und verweigerte jede Kooperation.
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Gudrun Ensslin argumentierte intellektuell und ideologisch geschult, trat jedoch kompromisslos auf.
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Jan-Carl Raspe war der zurückhaltendste, beteiligte sich aber an den strategischen Unterbrechungen.
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Ulrike Meinhof, ehemals Journalistin, versuchte anfangs das Verfahren politisch zu kommentieren, isolierte sich später jedoch zusehends – auch innerhalb der Gruppe.
Die Verteidigung der RAF-Mitglieder war eine Mischung aus juristischer Strategie und politischem Aktivismus.

3. Verzögerungen, Taktik und Chaos im Saal
Der Prozess war geprägt von zahlreichen Unterbrechungen, Ablehnungsanträgen und juristischen Schachzügen der Verteidigung, mit dem Ziel, das Verfahren zu delegitimieren und als „staatliches Schauverfahren“ zu entlarven.
Beispiele für taktische Manöver:
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Mehr als 100 Befangenheitsanträge gegen den Vorsitzenden Richter oder das Gericht.
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Anträge auf Entlassung und Neubenennung von Verteidigern, oft kurzfristig.
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Anträge zur politischen Legitimität des bewaffneten Widerstands.
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Systematische Verzögerungen durch Nichtaussagen, Gesprächsverweigerung und Provokationen.
Das Gericht reagierte zunehmend autoritär: Verteidiger wurden ausgeschlossen (z. B. Michael Baumann), Gespräche in der Verteidigerzelle wurden überwacht, und es kam zu Isolationshaft außerhalb der Verhandlung.
4. Der Tod Ulrike Meinhofs (1976)
Ein tragischer Wendepunkt war der Tod von Ulrike Meinhof am 9. Mai 1976, der außerhalb des eigentlichen Prozessgeschehens, aber mitten in der Verhandlung stattfand.
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Meinhof wurde tot in ihrer Zelle in Stammheim aufgefunden – offiziell Suizid durch Erhängen.
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Ihre Mitangeklagten sprachen sofort von „staatlich organisiertem Mord“.
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Der Tod löste massive öffentliche Debatten und Demonstrationen aus, besonders im linken Milieu.
Der Prozess wurde für zwei Wochen unterbrochen. Viele Beobachter sahen Meinhofs zunehmende Isolation – sowohl innerhalb der RAF als auch gegenüber der Verteidigung – als mitverantwortlich für ihre psychische Zerrüttung.
5. Die Rolle der Medien und der Öffentlichkeit
Der Prozess war medial allgegenwärtig. Es war das erste Verfahren in der Bundesrepublik, das derart stark im Fokus der nationalen und internationalen Presse stand. Dies hatte mehrere Effekte:
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Das Verfahren wurde zur Bühne des politischen Kampfes.
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Sympathisanten der RAF versuchten mit Aktionen, Flugblättern und Anschlägen Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung zu nehmen.
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Der Staat wiederum versuchte, seine Souveränität und rechtsstaatliche Legitimität zu demonstrieren.
6. Beweisaufnahme und inhaltliche Schwerpunkte
Trotz aller Störungen und politischer Aufladung gab es auch eine intensive Beweisaufnahme, die sich über Monate zog. Sie umfasste:
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Sachverständigengutachten zu Sprengstoffen, Tatorten und Waffen.
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Zeugenaussagen von Ermittlern, Passanten, Sicherheitskräften.
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Rekonstruktion der Anschlagsserie von 1972, insbesondere:
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Bombenanschläge in Frankfurt, Heidelberg, Augsburg.
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Mordversuch an Bundesrichter Günter von Drenkmann.
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Diskussionen über die ideologischen Schriften der RAF („Das Konzept Stadtguerilla“, „Die Rote Armee Fraktion – eine politische Intervention“).
7. Verteidigerstreit und Ausschlüsse
Im Verlauf des Prozesses kam es auch zu einem offenen Bruch zwischen Gericht und Verteidigung. Einige Anwälte, insbesondere Klaus Croissant, wurden wegen mutmaßlicher Verbindung zur RAF selbst ins Visier der Ermittler genommen.
Der Ausschluss von Verteidigern wurde zu einem zentralen Streitpunkt:
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Verteidiger wurden durch das Gericht wegen angeblicher Prozessverschleppung oder Kontaktvermittlung zur RAF ausgeschlossen.
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Die Angeklagten erklärten, sie seien nun ohne legitime Verteidigung und boykottierten den Prozess.
Dies wurde von vielen Rechtswissenschaftlern als bedenkliche Einschränkung der Verteidigungsrechte gewertet.
8. Das Urteil – 28. April 1977
Nach 192 Verhandlungstagen sprach das Gericht das Urteil:
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Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe wurden wegen mehrfachen Mordes und versuchten Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.
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Ihnen wurde eine besondere Schwere der Schuld attestiert.
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Das Verfahren gegen Ulrike Meinhof wurde nach ihrem Tod eingestellt.
9. Revision und Nachwehen
Die Verteidigung legte Revision beim Bundesgerichtshof (BGH) ein, der das Urteil jedoch weitgehend bestätigte. Das Bundesverfassungsgericht wurde mehrfach angerufen, insbesondere in Fragen der Verteidigungsrechte und der Haftbedingungen – teils mit Teilerfolgen.
10. Das Ende: Die Todesnacht von Stammheim (18. Oktober 1977)
Nach der Befreiung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ durch die GSG 9 in Mogadischu – einem Versuch der RAF, durch Geiselnahme die Stammheim-Häftlinge freizupressen – kam es zur sogenannten „Todesnacht von Stammheim“:
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Baader wurde mit einem Kopfschuss tot aufgefunden.
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Ensslin hatte sich erhängt.
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Raspe starb später an einem Kopfschuss.
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Irmgard Möller überlebte schwer verletzt – sie sprach später von einem Mordkomplott, das nie bewiesen wurde.
Der Staat sprach von Suizid – doch Zweifel daran blieben bis heute bestehen.
Historische Bedeutung
Der Stammheim-Prozess war mehr als nur ein Strafprozess – er wurde zum Symbol für den Kampf des demokratischen Rechtsstaates gegen den Terrorismus. Er offenbarte aber auch die Bruchstellen dieses Staates, wenn es um die Verteidigung seiner Grundwerte unter Extrembedingungen ging. Der Prozess prägte die deutsche Sicherheitspolitik über Jahrzehnte hinweg und führte zur Einführung neuer Anti-Terror-Gesetze. Er steht bis heute für die schwierige Gratwanderung zwischen Freiheit und Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und staatlicher Macht. Der Stammheim-Prozess ist ein Schlüsselmoment der deutschen Geschichte – nicht nur wegen seiner Dauer, der prominenten Angeklagten oder des dramatischen Endes, sondern weil er zentrale Fragen über Recht, Moral und staatliche Verantwortung aufwarf. Die Ereignisse von Stammheim haben Deutschland geprägt – juristisch, politisch und gesellschaftlich – und werfen bis heute Fragen auf, die nichts von ihrer Brisanz verloren haben.
Die RAF (Rote Armee Fraktion) existiert heute offiziell nicht mehr. Sie hat sich am 20. April 1998 in einem Brief an die Nachrichtenagentur Reuters selbst aufgelöst. Darin hieß es u. a.:
„Heute beenden wir dieses Projekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte.“
Damit zog die Organisation nach fast drei Jahrzehnten Bilanz – ein Zeitraum, in dem sie drei Generationen durchlief, über 30 Menschen ermordete und den bundesdeutschen Staat herausforderte wie kaum eine andere innere Bedrohung zuvor.
Obwohl die RAF selbst nicht mehr existiert, gibt es vereinzelt Gruppierungen oder Personen mit ähnlicher Ideologie. Allerdings:
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Es gibt keine organisierte bewaffnete linksterroristische Bewegung in Deutschland mit der Struktur oder dem Einfluss der RAF.
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Einige ehemalige RAF-Mitglieder leben noch, teils in Freiheit, teils untergetaucht (z. B. Daniela Klette, die 2024 nach Jahrzehnten des Untertauchens in Berlin festgenommen wurde).
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Linksextreme Gruppen existieren weiterhin, z. B. die „militante gruppe“ oder autonome Zellen – doch sie agieren deutlich weniger gewaltsam und haben keinen direkten RAF-Bezug.
Der Verfassungsschutz beobachtet weiterhin linksextreme Strukturen, sieht jedoch keine Hinweise auf eine neue RAF oder vergleichbare Strukturen. Auch die Szene selbst distanziert sich heute weitgehend von der RAF, deren Strategie des bewaffneten Kampfes als gescheitert gilt.
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