von Sepp Spiegl

Die Kraft der Sprichwörter

Sprichwörter und Redewendungen sind das Salz in der Suppe jeder Sprache. Sie fassen komplexe Lebensweisheiten, Beobachtungen und Erfahrungen in prägnante, oft bildhafte Sätze, die über Generationen weitergegeben werden. Manche sind humorvoll, andere warnend, einige kryptisch – doch viele von ihnen berühren etwas Universelles im menschlichen Dasein.

Eine besonders eindrucksvolle Redewendung ist „In der Not frisst der Teufel Fliegen“. Der Satz erzeugt sofort ein starkes Bild im Kopf: Der mächtige, stolze Teufel, der normalerweise nach Seelen giert, sitzt nun gebeugt da – und isst Fliegen. Warum sollte ausgerechnet er, der Inbegriff des Stolzes und der Macht, sich mit so etwas Abscheulichem zufriedengeben? Die Antwort liegt in der Kernaussage: In schwierigen oder ausweglosen Situationen werden Prinzipien, Geschmack und Ansprüche oft über Bord geworfen – schlicht, weil es keine Alternativen gibt.

Herkunft und Bedeutung der Redewendung

Die Redewendung „In der Not frisst der Teufel Fliegen“ ist ein sprachliches Bild mit tiefen historischen Wurzeln und einer deutlichen moralischen Aussagekraft. Ihre Ursprünge lassen sich bis ins späte Mittelalter zurückverfolgen – eine Zeit, in der der Teufel eine zentrale Figur in Volksglauben, Legenden und religiöser Vorstellung war. Der Teufel symbolisierte nicht nur das Böse, sondern auch Hochmut, Macht und Überheblichkeit. Gerade weil er als stolz und unnachgiebig galt, wirkt das Bild eines Teufels, der sich mit dem Fressen von Fliegen begnügen muss, besonders drastisch und eindrucksvoll. Die älteste bekannte schriftliche Erwähnung dieser Redewendung findet sich im 17. Jahrhundert. In dieser Zeit erlebte die deutsche Sprache eine Blüte bildhafter Redewendungen und Sprichwörter, die oft in Volksbüchern, satirischen Schriften und Predigten gesammelt wurden. Autoren wie Johann Fischart oder auch später Sebastian Franck und andere Sammler von Sprichwörtern trugen zur Verbreitung solcher Ausdrücke bei. Im kulturellen und religiösen Kontext war das Motiv der „Not“ damals nicht nur eine persönliche Krise, sondern oft auch mit Hunger, Krieg oder Krankheit verbunden – Lebenslagen also, in denen Menschen gezwungen waren, ihre Moral oder Ansprüche der reinen Existenzsicherung unterzuordnen. Insofern spiegelte die Redewendung eine soziale Realität wider: In der Not wurde alles gegessen, was verfügbar war – auch etwas so Unappetitliches wie Fliegen.

Interessanterweise lässt sich auch eine Parallele zur mittelalterlichen Dämonologie ziehen. In manchen Darstellungen wurde dem Teufel eine Vorliebe für Unrat und Aas zugesprochen – Dinge, die Reinheit und göttliche Ordnung verhöhnten. Fliegen waren Träger von Krankheit, Symbolträger für das Abscheuliche. Der Teufel, der so tief sinkt, dass er selbst Fliegen isst, stellt somit die ultimative Erniedrigung dar – und gleichzeitig die klare Aussage: In der Not gibt es keine Eitelkeit mehr. Die Langlebigkeit und Popularität der Redewendung rührt vermutlich genau von dieser kraftvollen Bildsprache her. Sie spricht eine Wahrheit aus, die über Epochen und Generationen hinweg verständlich und nachvollziehbar bleibt – egal ob in Zeiten des Dreißigjährigen Kriegs oder im modernen Alltag.

Alltagssituationen: Wenn Prinzipien weichen

Im täglichen Sprachgebrauch taucht die Redewendung „In der Not frisst der Teufel Fliegen“ oft in Momenten auf, in denen Menschen über ihre eigenen Ansprüche hinwegsehen – sei es mit einem Augenzwinkern, einem resignierten Seufzer oder einer Prise Selbstironie. Sie gehört zu den Redensarten, die nicht nur ein Bild zeichnen, sondern auch eine bestimmte Haltung ausdrücken: die Fähigkeit, sich der Realität zu beugen – manchmal bereitwillig, oft widerwillig.

Positiver Gebrauch – Anpassung, Überlebenswille, Pragmatismus
In positiver Deutung steht die Redewendung für Flexibilität und den Mut, sich anzupassen, auch wenn es unangenehm ist. Sie wird dann verwendet, um zu zeigen, dass man sich in schwierigen Situationen nicht stur auf Prinzipien versteift, sondern handlungsfähig bleibt. Wer etwa nach einer langen Jobsuche eine Stelle annimmt, die nicht hundertprozentig den eigenen Qualifikationen oder Wünschen entspricht, könnte sagen: „Na ja, in der Not frisst der Teufel Fliegen.“ Hier klingt keine Scham mit, sondern eine realistische Einschätzung der Lage – gepaart mit dem Willen, voranzukommen. Auch in alltäglichen Situationen taucht dieser Tonfall auf: Eine überzeugte Hobbyköchin, die im Stress doch eine Tiefkühlpizza in den Ofen schiebt; ein Vielreisender, der pandemiebedingt auf virtuelle Reisen und Diashows ausweichen muss – beide könnten schmunzelnd zur Redewendung greifen, um zu sagen: „Ich mach das Beste draus.“ Der Satz signalisiert dann eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit Einschränkungen – eine Art praktischer Philosophie, mit der viele Menschen durch Krisen navigieren.

Negativer Gebrauch – Spott, Resignation, Selbstaufgabe
Weniger schmeichelhaft wirkt die Redewendung, wenn sie mit einem spöttischen oder resignierten Unterton gebraucht wird. Dann deutet sie auf das (scheinbare) Scheitern eigener Ideale oder Ansprüche hin. Wenn etwa jemand, der früher betonte, nie online zu daten, plötzlich auf Dating-Apps aktiv ist, könnte ein Außenstehender trocken kommentieren: „Tja, in der Not frisst der Teufel Fliegen.“ Hier schwingt eine gewisse Häme mit – der Hinweis darauf, dass jemand sich auf Dinge einlässt, die er zuvor belächelt oder abgelehnt hat. In besonders zynischen Zusammenhängen kann die Wendung auch Ausdruck tiefer Frustration oder innerer Kapitulation sein. Wenn jemand seine Träume aufgibt und sich dauerhaft mit einer Situation abfindet, die ihn unglücklich macht, könnte der Satz wie ein resigniertes Mantra wirken – als Zusammenfassung eines langsamen, schmerzhaften Prozesses der Anpassung. In diesem Fall steht die Redewendung nicht mehr für pragmatische Lebensklugheit, sondern für Enttäuschung und ein Gefühl des Ausgeliefertseins.

Ein Spiegel unserer Haltungen
So zeigt sich: Der Gebrauch der Redewendung verrät oft mehr über die innere Haltung als über die äußeren Umstände. Er kann Ausdruck von Stärke und Flexibilität sein – oder von Schwäche und Aufgabe. Entscheidend ist, wie der Satz gesagt wird, in welchem Tonfall und mit welcher Absicht. Gerade deshalb ist „In der Not frisst der Teufel Fliegen“ so kraftvoll: Weil er zwischen den Zeilen so viel mitschwingen lässt – von Trotz über Witz bis hin zu Melancholie.

Die Redewendung im Berufsleben

Auch im Berufsleben zeigt sich der Gebrauch dieser Redensart deutlich. Menschen nehmen befristete oder unterbezahlte Jobs an, hochqualifizierte Bewerber arbeiten in Aushilfsstellen, und Selbstständige nehmen Aufträge an, die nicht ihren Standards entsprechen – alles aus der Not heraus. In der Politik wird die Wendung ebenfalls oft ironisch verwendet, etwa wenn ideologisch gegensätzliche Parteien eine Koalition eingehen müssen oder unpopuläre Maßnahmen in Krisenzeiten ergriffen werden.

Private Notlagen und gesellschaftliche Krisen

Auch im privaten Leben ist die Redensart allgegenwärtig. Menschen bleiben in Beziehungen, weil sie Angst vor dem Alleinsein haben, oder sie leben in unbefriedigenden Wohnverhältnissen aus Mangel an Alternativen. Während der Corona-Pandemie etwa wurde das Sprichwort oft zitiert – als Menschen Urlaube durch Online-Treffen ersetzten oder auf kreative Notlösungen auswichen.

Ein universelles Prinzip in vielen Sprachen

Interessant ist, dass das Prinzip hinter der Redewendung in vielen Sprachen existiert. Im Englischen sagt man: “Beggars can’t be choosers” („Bettler können nicht wählerisch sein“). Im Französischen: “Faute de grives, on mange des merles” („Wenn es keine Drosseln gibt, isst man eben Amseln“). Im Spanischen: “A falta de pan, buenas son tortas” („Wenn es kein Brot gibt, sind auch Kuchen gut“). Alle vermitteln dieselbe Botschaft: In Mangellagen zählt das, was verfügbar ist – nicht das Ideal.

Ein Sprachbild voller Tiefe

Zusammenfassend ist „In der Not frisst der Teufel Fliegen“ ein faszinierendes Stück Sprachkultur. Es ist drastisch, bildgewaltig und tief menschlich. Die Redensart spricht von Anpassung, Überlebensinstinkt, aber auch von Enttäuschung und Realismus. Ob im Alltag, im Beruf, in der Politik oder global – sie bleibt ein treffender Kommentar zu den Kompromissen, die Menschen machen, wenn es keine bessere Wahl gibt. Und sie erinnert daran, dass Notlagen oft nicht nur kreative Lösungen fordern, sondern auch die Bereitschaft, über den eigenen Schatten zu springen.