Mainz ist ein Fußballdorf und offensichtlich ganz zufrieden damit. Auch die Bratwurst im Stadion verströmt diesen Geist. Hier passen Umgebung und Geschmackserlebnis besonders gut zusammen. Doch der Reihe nach:

Weit vor den Toren der Stadt, inmitten ausgedehnter Felder, erhebt sich der 30.000 Zuschauer fassende moderne Zweckbau OPEL-ARENA, die Heimstatt von FSV Mainz 05. Auf asphaltierten Feldwegen wandern die Zuschauer gemütlich zum Stadion. Parkplätze und Straßenbahnhaltestellen sind ein ganzes Stück entfernt, an einem Fußmarsch geht kein Weg vorbei. Nur VIPs parken direkt am Ort des Geschehens. Vielleicht kommen auch deshalb so viele Zuschauer mit dem Fahrrad. Es ist kein Zufall, dass ich mich hier erinnere, wie ich in frühester Jugend an der Hand meines Opas den dörflichen Fußballplatz ebenfalls erst nach einer mir endlos erscheinenden Wegstrecke zu Gesicht bekam. Die örtlichen Bauern wollten ihre ortsnahen Felder eben nicht für einen Fußballplatz opfern. Da hieß es wandern.

Aber nicht nur deshalb wirkt die Fußballinszenierung in Mainz rührend gestrig. Endlich komme ich am Stadion an und lande in einem Biergarten. Die Kastanien sind noch jung, Kies und Bestuhlung sind stilecht. Es geht unaufgeregt und gemütlich zu. Ein privater Rundfunksender bietet eine Tombola und das aus dem Aktuellen Sportstudio des ZDF bekannte Torwandschießen an. Wie passend, da die ZDF-Zentrale sich gut sichtbar über dem Stadion auf dem Lerchenberg erhebt. Das ganze Ambiente signalisiert, die große Show findet woanders statt.

Im Stadion werden regionale Schlager gespielt und verhalten mitgesungen. Das Durchschnittsalter der Dauerkartenbesitzer auf der Haupttribüne ist hoch. Viele Paare und Freundeskreise diskutieren ruhig über das aktuelle Spiel, das schöne herbstliche Wetter und private Ereignisse. Fußball scheint ein Gesprächsanlass und Erlebnis unter vielen zu sein. Der sportliche Ehrgeiz des Publikums hält sich in Grenzen. Es wird zwar über Aktionen der eigenen Spieler geschimpft und die Fähigkeit des Heimtrainers in Zweifel gezogen – im Grunde steht aber der Stolz im Vordergrund, überhaupt in der ersten Liga mitspielen zu dürfen.

Und dann gibt es ihn, den Stadionsprecher Klaus Hafner. In altväterlichem Ton zelebriert er diesen Job nun im dreißigsten Jahr. In seinem Trikot mit der Rückennummer 12 steht er am Spielfeldrand und animiert mit seinem markanten „ Auf geeeeeht’s“ das Publikum. Dann kündigt er erst die Sammlung für ein Obdachlosenheim an, um dann die versammelten Helden des Aufstiegs in die 2. Bundesliga von 1990 zu zelebrieren. Früher hat er mit dieser Mannschaft jeden Pflichtspielsieg ausgiebig auf einer Kneipentour gefeiert. Rührselig fragt er sich und die Zuschauer, was passieren würde, wenn sich die Profis das heute erlauben würden. Mainz ist das einzige Stadion der ersten Bundesliga, in dem den Gästefans das für die Heimmannschaft selbstverständliche lauthalse Grölen der eigenen Mannschaftsaufstellung gewährt wird. Dafür erhielt Klaus Hafner 2012 die Fairplay Medaille des DFB. Beim aktuellen Spiel wirkt diese Präsentation der Gästemannschaft allerdings peinlich, denn es sind so wenige Fans aus Wolfsburg mitgereist, dass ihr dünner Chor kaum bis zu Haupttribüne reicht.

Empathisch begrüßt Klaus Hafner dann die Rollstuhlfahrer, alle anderen Gehandicapten sowie die anwesenden Frauen in einem Atemzug und – es gibt keine Reaktion der Zuschauer. Der vollkommen unangebrachte Zusammenhang scheint ihm dann doch selbst aufzufallen und ein „liebe Frauen, ich liebe euch alle“ wird nachgeschoben. Immer noch keine Reaktion im Stadion. Solche Sprüche scheinen allzu gewohnt zu sein , um Beachtung zu finden. Später sorgt Klaus Hafner auch für den Höhepunkt des äußerst langweiligen 0:0 Spiels gegen Wolfsburg mit seiner Durchsage: „Harald Müller, melde dich dringend bei deiner Frau, ich glaube, du wirst Vater“. Beifall und Gelächter des Publikums halten sich die Waage. Fast vergesse ich, dass ich wegen der Bratwurst in Mainz bin.

Die lange schmale und frisch gebratene helle Bratwurst wird in drei gleichlange Stücke zerteilt, damit sie von dem großen und mittelmäßig knackigen Brötchen vollständig umhüllt wird. Damit ist sie wie die klassische regionalen Spezialität „Weck und Worscht“ ( Brötchen mit Fleischwurst) gestaltet, die nach einer längeren Zeit der Abstinenz wieder im Stadion verkauft wird. Es gibt also regionale Konkurrenz innerhalb der Wurstfamilie. Die Bratwurst ist fest im Biss, hat ausreichend Röstaromen und ist gut, aber nicht überambitioniert, gewürzt. Der Zusatz von Senf, Ketchup oder anderen Geschmacksverbesserern ist überflüssig. Sie überzeugt als ein regionales und sehr stimmiges Produkt. An den großzügig gestalteten Verkaufsstellen gibt es kaum Wartezeiten. Die Verkäuferinnen und Verkäufer sind sehr freundlich und kommunikativ. Es wird bargeldlos mit der eigenen Kredit- oder Bankkarte bezahlt.

Zur flüssigen Begleitung der Wurst kann auch Weißweinschorle bestellt werden. Auch das ist sympathisch regional und wird offensichtlich vor allem von den Zuschauerinnen geschätzt. Besonderen Lokalkolorit verströmt auch weiteres inbrünstig vorgetragenes Liedgut: Vor dem Anpfiff singt das Stadion selbstironisch „Wir sind nur ein Karnevalsverein“, während des Spiels wird bei der Verletzung eines Gastspielers hämisch das aus Mainzer Karnevalssitzungen bekannte „Ui-Jui-Jui-Au-Au-Au“, der Mainzer Bänkelsänger angestimmt. Zur rührend dörflich anmutenden Idylle guter vergangener Zeiten passt, dass Stadionrandalierer in Mainz zu Sozialstunden verurteilt werden, in denen sie das Stadion putzen müssen.

In der Bratwurstliga rückt Mainz auf Platz 3 bei bisher 5 getesteten Stadien.

Wird fortgesetzt.

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