Der Rhein ist Europas kultureller Urstrom. In seinem Gedächtnis sind alle Höhen und Tiefen der europäischen Geschichte gespeichert. Zugleich ist der Rhein Europas Schicksalsfluss. Wurde um den Rhein wie um einen Besitz gekämpft, brannte Europa. Herrschte dagegen Frieden am Rhein, ging es Europa gut. In seinem neuen Buch „Vater Rhein“, das im Februar 2026 im Herder-Verlag erscheint, schildert der Autor Günter Müchler das wechselvolle Geschehen am Rhein in 17 Kapiteln, angefangen mit dem ersten Brückenbau unter Julius Cäsar bis zu Konrad Adenauers letzter Heimfahrt. Das Kapitel „Auf der Goldenen Meile“ beschreibt die Rheinwiesenlager, die im April 1945, also vor 80 Jahren, eingerichtet wurden und in denen hunderttausende deutsche Kriegsgefange unter extremen Bedingungen zusammengefasst waren. Rantlos bringt das Kapitel als Vorabdruck.

16. Auf der Goldenen Meile

Die „Rheinwiesenlager“ sollten als Durchgangslager für die provisorische Unterbringung der Gefangenen dienen. Die „Goldene Meile“ war eines dieser Lager. ©wikipedia

Daheim verbrannten Kleider und Schuh,

Nibelungen und Faust.

Ich schaue dem Flug der Mosquitos zu,

mit fiebrigen Augen, stumpf und verlaust.

In trüber Stille das Lager versinkt.

Mein eigener Seufzer füllt kein Ohr.

Als Gruß der Welt noch herüberdringt

Der Geruch von Latrine und Chlor“.

Den Namen Goldene Meile verdankt der Uferstreifen zwischen Remagen und Bad Breisig seinem fruchtbaren Lössboden. „Frühling in der Goldenen Meil“ heißt ein Gedicht von Günter Eich. Als der Lyriker es 1945 verfasste, war golden auf dem gesegneten Boden allerdings nichts, und Frühling stand bloß im Kalender für die rund 250 000 deutschen Kriegsgefangenen, die auf der Goldenen Meile zusammengepfercht vegetierten. Eich war einen von ihnen.

Unser Bild der unmittelbaren Nachkriegszeit wird bestimmt von Haupt- und Staatsereignissen: Einrichtung der Besatzungszonen, Nürnberger Prozesse, Zerbrechen der Kriegskoalition, Währungsreform und Berlin-Blockade sind Kapitel, die, hoffentlich, in keinem Schulunterricht fehlen. In diesem Panorama kommen die menschlichen Elementarteilchen kaum vor. Wir denken uns das Deutschland nach der Kapitulation wie eine erstarrte Trümmerlandschaft, darin eingesprengt ein paar Frauen mit Kopftüchern und Krüppel in Uniformlumpen. Tatsächlich war viel Bewegung in der Zerstörung. Durchs große Trümmerfeld kreisten, riesigen Lindwürmern gleich, Mengen Unbehauster. Harald Jähner, nennt in „Wolfszeit“, vielleicht der besten Revue der Nachkriegsjahre, Zahlen: „Über die Hälfte der Menschen in Deutschland waren nach dem Krieg nicht dort, wo sie hingehörten oder hinwollten, darunter neun Millionen Ausgebombte und Evakuierte, vierzehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, zehn Millionen entlassene Zwangsarbeiter und Häftlinge, Abermillionen nach und nach zurückkehrende Kriegsgefangene“.

Annähernd 11 Millionen deutsche Soldaten gerieten während des Krieges oder am Ende in Gefangenschaft, zwei Drittel von ihnen kamen in die Obhut der Westalliierten. Obhut war ein euphemistisches Wort. Die Haager Landkriegsordnung und spätere internationale Übereinkünfte verlangten von den jeweiligen Siegern, Gefangene gut zu behandeln und ihnen genauso viel zu essen zu geben wie den eigenen Leuten. Aber das war eine hehre Vorschrift. Entweder man scherte sich nicht um sie (wie die Deutschen es getan hatten, vor allem wenn es um sowjetische Gefangene ging; die Sowjets hielten es umgekehrt ähnlich). Oder die Anforderungen überstiegen die Möglichkeiten. Das war der Fall in den Wochen des Zusammenbruchs der Wehrmacht. Allein in den sieben Tagen vom 1. bis zum 8. Mai 1945 fiel den Amerikanern eine Million Kriegsgefangene zu, was eine kolossale logistische Herausforderung darstellte. Zu dieser Million kamen die 325 000 deutschen Soldaten, die kurz zuvor mit der Heeresgruppe B im Ruhrkessel kapituliert hatten. Insgesamt befanden sich nach Kriegsende 3,4 Millionen Gefangene in US-Gewahrsam.

Um der Flut einigermaßen Herr zu werden, errichtete die US-Army 23 Lager, von Büderich am Niederrhein bis Ludwigshafen. Die offizielle Bezeichnung lautete „Prisoner of War Temporary Enclosures“ (POWE). Richtschnur für die Praxis war das Beiwort „temporary“. Bei einer Angelegenheit, die erklärtermaßen nur vorübergehenden Charakter hat, müssen nicht alle Vorschriften penibel eingehalten werden. Das war der Standpunkt der Amerikaner, und so verhielten sie sich. Tatsächlich waren die Camps auf den Rheinwiesen bloß Durchgangslager. Die meisten Gefangenen verließen sie nach ein paar Wochen. Es waren allerdings Wochen in der Hölle.

Auf ihrem Vormarsch hatten sich die Amerikaner ganz auf das Erreichen der militärischen Ziele konzentriert. Wo man mit den Massen von Kriegsgefangenen hin sollte, die im Erfolg anfallen würden, galt als cura posterior. Blaupausen gab es nicht. Irgendeinem in der Armeeverwaltung muss dann der Geländestreifen am Rhein ins Auge gefallen sein. Er schien insofern geeignet, als es sich um eine schlauchartige Freifläche handelte, die an den Seiten begrenzt war durch Fluss und Eisenbahnlinie, was die Kontrolle erleichterte. Außerdem verfügten die meisten der kleinen, eingesprengten Ortschaften über Bahnanschluss. Auf diesem Gelände, den Rheinwiesen, ließen sich Lager mit minimalem Aufwand einrichten, denn dank der Vorgabe „temporary“ konnte man sich den Bau von Baracken oder Unterständen sparen. Man musste lediglich dafür sorgen, dass Flucht für die Gefangenen so gut wie nicht infrage kam. War der Stacheldrahtzaun fertig, konnten die ersten einrücken. Die Verteilung erfolgte nach dem Dezimalsystem. Jedes Lager bestand aus mehreren „Cages“ mit einem Fassungsvermögen von bis zu 10 000 Personen. Jedes „Cage“ war unterteilt in Gruppen à 1000, à 100 und à 10 Personen.

Was die Gefangenen in den „Cages“ verband, war Überlebensinstinkt. Die erlernte militärische Ordnung hatte sich aufgelöst. Es gab keine Vorgesetzten mehr und keine Einheiten. Damit fehlten Orientierungen, die während des Krieges Halt und eine gewisse Bequemlichkeit geboten hatten. Jetzt war jeder auf sich zurückgeworfen, eine neue Situation, die den Gefangenen zusätzlich zu schaffen machte. Sie waren am Ende ihrer Kräfte. Sie hatten Träume gehabt. Kennengelernt hatten sie das Grauen. Ihre Träume waren geschrumpft auf das Durchhalten, ihre Bedürfnisse auf das Elementare. Essen, Verdauen, Schlafen – darum ging es. Schlimm war, dass man ihnen beim Eintreffen fast alles abgenommen wurde, was sie bei sich führten. Das war nicht aus Habgier geschehen oder weil sich die Bewacher vor eingeschmuggelten Waffen fürchteten. Wovor die Amerikaner eine Heidenangst hatten, waren eingeschleppten Krankheiten. Deshalb wurden Decken und Zeltplane gefilzt, auf einen Haufen geworfen und verbrannt. Die Folge war, dass sich die Gefangenen ihre Schlafplätze auf dem nackten Boden einrichten mussten.

Das Rheinwiesenlager Goldene Meile, das größte der POWEs, bestand aus zwei Komplexen, dem Lager A2 Remagen und A5 Sinzig. Jeder Komplex war für 100 000 Gefangene ausgelegt. Tatsächlich betrug die Belegung des Lagers Remagen auf dem Höhepunkt 170 000. Beide Lager zusammen brachten es im Schnitt auf 200 000 bis 250 000 Kriegsgefangene. Die Verpflegung war am Anfang miserabel, besserte sich aber im Lauf der Zeit. Das Trinkwasser kam aus dem Rhein und war gechlort. Latrinen mussten erst ausgehoben werden. Glück hatte, wem es gelang, eine von den Bewachern weggeworfene Konservendose zu ergattern. Aus dem Blech ließen sich Löffel formen, auch kleine Schaufeln, die beim Graben von Erdlöchern nützlich sein konnten. Schlafmulden boten ein wenig Schutz vor dem Wind. Sie liefen aber voll bei Regen, und es regnete lange Tage. Augenzeugen, die sich einen Einblick verschaffen konnten, waren über die Zustände in den Lagern entsetzt. Ein Sinziger Bürger gab zu Protokoll: „Das Lager war so, als wenn man eine Herde von Schafen auf ein Gelände treibt, es mit Stacheldraht abriegelt und die Tiere sich selbst überlässt. Die Bedingungen waren absolut menschenunwürdig. Wer noch eine Decke oder einen Mantel hatte, war noch gut dran. Sie gruben sich mit bloßen Händen Erdlöcher, um wenigstens etwas Schutz zu haben……Die schlimmste Zeit für die Gefangenen war, als sintfluartige Regenfälle das Lager in eine Morastwüste verwandelte“.

Die Amerikaner wussten, weshalb sie zunächst keine Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes in die Lager ließen. Schon eine oberflächliche Inspektion hätte erhebliche Missstände aufgedeckt. Der Gesundheitszustand im Lager Remagen sei alarmierend, warnte am 27. April das 62. Feldhospital die für die POWEs zuständige 106. Infanteriedivision: „Falls diese Bedingungen weiter andauern, werden Krankheiten und Seuchen im Lager Überhand nehmen und die derzeitigen Sanitätseinrichtungen total überfordern“. Eindeutig fiel auch das Urteil des schweizerischen Generalkonsuls Franz Rudolf von Weiss aus. Weiss notierte Ende Mai in seinem Tagebuch: „Außerordentlich viele Klagen hört man über die haarsträubenden Zustände in den Kriegsgefangenenlagern. Vor einiger Zeit sind in Linz, Remagen und Kripp über 300 000 Gefangene untergebracht worden. Sie müssen im Freien Tag und Nacht kampieren, die meisten ohne Decken, auch bei stürmendem Regen, wie wir ihn hier seit Tagen haben. Offiziere und Mannschaften werden nicht getrennt, und ein Arzt, der kürzlich dort war, um einen Familienangehörigen aufzusuchen, traf dort einen General, der den Verstand beinahe ganz verloren hatte. Die Zustände sollen derart sein, dass ca. 60 – 100 Personen täglich sterben“.

Gestorben wurde an Ruhr, Typhus, Fleckfieber und allgemeiner Schwäche. Vereinzelt wurden Gefangene bei Fluchtversuchen erschossen. Genaue Sterbezahlen existieren nicht. Die von der Bundesregierung Jahre später eingesetzte „Maschke-Kommission“ schätzte, dass etwa ein Prozent der Gefangenen in der Lagerhaft starben. Bedenkt man, dass die Todesquote in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern bei knapp 40 Prozent lag und dass von den Russen, die die Wehrmacht während des Weltkriegs gefangen nahm, noch nicht einmal die Hälfte überlebte, kommt man zu dem Schluss, dass die POWEs wohl Orte extremer Vernachlässigung waren, aber keine Vernichtungslager. Allerdings sahen sich die Amerikaner auch nicht veranlasst, Rücksicht zu nehmen. Sie hatten in der Endphase des Krieges Konzentrationslager befreit und waren auf ein Ausmaß an Barbarei gestoßen, das jede Vorstellung überstieg. Für sie waren die Wehrmachtsoldaten allesamt Nazis, die keinen Anspruch darauf hatten, nach soldatischem Ehrenkodex behandelt zu werden.

Dabei ließen sich die Gefangenen schon äußerlich nicht über einen Kamm scheren. Es waren 60jährige darunter und Kinder von 14 und 15 Jahren, Volkssturmsoldaten, die das stürzende System im letzten Moment als Kanonenfutter an die Front geworfen hatte. Man fand Elsässer und Lothringer, die nach der Niederlage Frankreichs in die Wehrmacht gezwungen worden waren und die jetzt zum zweiten Mal Opfer wurden. Postbeamte und Lokführer hatte man unterschiedslos als „Nazis“ authentifiziert, bloß weil sie Uniform trugen. Eine Sonderstellung nahmen die „Female-Cages“ in den Lagern Sinzig und Remagen ein. Die Frauen, Wehrmachtshelferinnen oder „Arbeitsdienstmaiden“, waren besser ausgestattet als die Männer. Sie erhielten Decken und Zelte, litten aber besonders unter den schlechten hygienischen Bedingungen.

Quälend war für alle die Ungewissheit, wie es mit ihnen weitergehen würde. Quälend waren auch die Gewissheiten, mit denen die Gefangenen fertig werden mussten. Der Krieg war verloren. Das hochtönende Dritte Reich existierte nicht mehr. Es hatte die Deutschen zu den Parias der Welt gemacht. Es gab Einsichtige, denen aufgrund eigener Erlebnisse schon lange schwante, dass man für die im deutschen Namen begangenen Verbrechen würde büßen müssen. Es gab die Naiven, die sich mit dem Gedanken getröstet hatten, das Kriegsende wäre gleichbedeutend mit „Ab nach Hause“, und die jetzt aus allen Wolken fielen. Es gab die Angehörigen der Waffen-SS, die vor der Entdeckung der auf der Innenseite des linken Oberarms eintätowierte Blutgruppe zitterten. Und es gab die Verstockten, die nichts gelernt hatten und wider alle Vernunft der „Endsieg“-Propaganda bis zuletzt auf den Leim gegangen waren. Als der Ruhrkessel schon geschlossen war, hatte Generalfeldmarschall Walter Model, Chef der Heeresgruppe B, zum Osterfest eine entchristlichte Auferstehungsbotschaft an seine Soldaten gerichtet: „Trotz aller Frühlingsstürme treten wir mit starkem und unerschütterlichem Glauben an die Sendung und Zukunft unseres Volkes in die 6. Kriegsostern ein…..Noch fanatischer muss der Glaube und Wille aller, den feindlichen Gewalten zum Trotz, sich dafür einsetzen, dass die Sonne über unserem ungeschmälerten Vaterland wieder voll erstrahlt. Die Parole heißt: Kein Soldat soll besser sein als wir großdeutschen Soldaten Adolf Hitlers“. Ein paar Tage später stahl sich Adolf Hitler durch Selbstmord aus der Verantwortung, Walter Model desgleichen, die Heeresgruppe kapitulierte, und die Landser, statt dass die Sonne wieder für sie erstrahlte, wurden auf Lastwagen und in Zügen Richtung Rheinwiesen abtransportiert.

Erinnerungen von Zeitzeugen bilden nicht immer ab, wie es wirklich gewesen ist. Sie konstruieren Wirklichkeiten. Das Gedächtnis, die gnädige Sortiermaschine, filtert unschöne Bilder aus und bewahrt die Lichtblicke. Manchmal kommt es vor, dass Zeitzeugen sich aus Scham den Mund verbieten. Sorj Chalandon, der den Prozess gegen den Lyoner Gestapo-Chef Barbie verfolgte, erwähnt den Schwur von Opfergruppen, nie über das zu sprechen, was sich in den Deportationszügen abspielte. Dass man zum Beispiel Erleichterung empfand über den Tod eines Kameraden, weil dadurch mehr Platz war im überfüllten Wagon. Blättert man in den Überlieferungen der Rheinwiesen-Gefangenen, finden sich häufig Loblieder auf die Bauern aus der Eifel, die Gefangenen Lebensmittel zuschanzten. Ein Refrain sind die gegenseitige Hilfsbereitschaft im Lager und der Wille, die Eintönigkeit des Alltags zu durchbrechen. Pfarrer hielten Gottesdienste, Lehrer organisierten Englischunterricht, Chöre sangen Volkslieder, zum Beispiel „Warum ist es am Rhein so schön?“. Sogar ein Varieté wurde gegründet. Dokumentiert ist die Entstehung der „Schwarzen Madonna“. Ein Häftling, der Bildhauer Adolf Wamper, formte die Figur aus Lehm. Wie durch ein Wunder überstand sie die Lagerzeit und ist heute in der Friedenskapelle von Remagen ausgestellt.

Es gab diese Lichtblicke. Aber es gab eben auch die andere Seite, jene animalische Wirklichkeit, in der aus Not und Todesangst missgönnt und gehasst wird und jeder sich selbst der Nächste ist. Die Überlieferung enthält wenig über die Suizide, die wohl nicht nur die Ausnahme waren. Bloß in Andeutungen wird von Fememorden berichtet. Offenbar kam es vor, dass hartgesottene Nazis mit Männern, die ihre Freude über das Ende des Dritten Reiches äußerten, aneinandergerieten, was dazu führte, dass Letztere im Dunkel der Nacht als „Verräter“ niedergemacht wurden. Ein ewiges Drama war die Lebensmittelausgabe: Ein Kriegsgefangener schildert das schaurige Ritual: „Schier zum Skelett abgemagerte Gestalten umringen den Gruppenführer, ihren ‚zehnten Mann‘. Aus heißhungrigen, fieberhaften Augen verfolgen sie argwöhnisch jede Bewegung des Gruppenführers. Es ist kein einfaches Amt, das der Ärmste da ausübt. Er nimmt seinen Löffel aus der Rocktasche, streicht ihn mechanisch am staubigen, schlammverklebten Gewand ‚sauber‘ und beginnt, an die im Halbkreis um ihn stehende nervöse, kleine Schar auszugeben: 1 Löffel Grieß, Zucker, Milchpulver, Kaffee, Thunfisch, Tomatentunke. Von alles gibt es, wie gesagt, einen Löffel voll, bleibt etwas übrig, so wird es mit der Messerspitze aufgeteilt, und einen Heidenkrach gibt es, wenn einer glaubt, dass er zu schlecht bedient wurde“. Der Bericht endet: „O, mein Freund, willst du dich davon überzeugen, wie schnell sich der Mensch zur Bestie, die Zivilisation zur Wildnis verwandeln kann, dann komme zu uns ins Kriegsgefangenenlager nach Sinzig am Rhein“.

Es war von Anfang an die Absicht der Amerikaner gewesen, die Kriegsgefangenen so rasch wie möglich loszuwerden. Folgerichtig übergaben sie ihre Lager Mitte Juli an die Franzosen. Schon vorher hatte es Entlassungswellen gegeben. Davon profitierten zunächst Frauen und Hitlerjungen, dann auch Berufsgruppen wie Bergleute und Lkw-Fahrer, die für den Wiederaufbau nützlich sein konnten. Die Franzosen hatten andere Pläne. Frankreich hatte im Krieg stark gelitten und verlangte Wiedergutmachung. Das bedeutete für die meisten der in den Lagern Verbliebenen, dass ihre Gefangenschaft noch nicht vorbei war. Sie wurden als Reparationszwangsarbeiter nach Frankreich verbracht, wo sie in der Landwirtschaft und anderen Bereichen der Wirtschaft arbeiten mussten. Die letzten kamen erst 1948 nach Hause.

Günter Eich, 1907 in Lebus an der Oder geboren, hatte sich Erich Kästner zufolge bei Kriegsbeginn mit den Worten verabschiedet, jetzt müsse er Gedichte auswendig lernen. Er werde sie im Unterstand brauchen. Im Rheinwiesenlager Goldene Meile Lager schrieb er dann selbst Gedichte. Sie wurden 1948 in der Sammlung „Abgelegene Gehöfte“ veröffentlicht. Das Gedicht „Latrine“ verleiht der Verlassenheit der Kriegsgefangenen Ausdruck:

Irr mir im Ohre schallen

Verse von Hölderlin.

In schneeiger Reinheit spiegeln

Wolken sich im Urin.

Die Hoffnung aber stirbt zuletzt. In „Blick auf Remagen“ finden sich die Zeilen:

Am zerschoßnen Gemäuer ,

weiß ich, grünt wieder der Wein.

Werden mir jünger und neuer

einmal die Stunden sein?

Die im Rheinwiesenlager verfassten Gedichte machten Eich zu einem Kronzeugen der Nachkriegszeit und stellten ihn an eine Seite mit Wolfgang Borchert. Eich erhielt den ersten Preis, den die Gruppe 47 verlieh. 1959 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.