Staatsumbau mit Folgen
von Niels Annen
Abrücken von europäischen Grundwerten kann für Polen nicht ohne Konsequenzen bleiben. Kritik bedeutet aber kein Infragestellen der Freundschaft.
Der Sieg der polnischen Rechten bei den jüngsten Wahlen hat die tiefe Krise der Europäischen Union noch weiter verschärft. Der klare Sieg der nationalkonservativen Partei PiS („Recht und Gerechtigkeit“) und die Tatsache, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Landes seit 1989 keine linke Partei mehr im Parlament vertreten ist, ließen den bereits erwarteten Rechtsruck noch deutlicher ausfallen. Der Triumph der Europaskeptiker weckte bereits am Wahlabend Befürchtungen, dass sich Polen auf einen ähnlichen Weg wie Ungarn begeben würde.
Diese Befürchtungen haben sich bestätigt. Hatte sich die PiS im Wahlkampf noch betont gemäßigt gegeben, zeigte die neue Regierung unter Ministerpräsidentin Szydlo nun ihr wahres Gesicht. Innerhalb kürzester Zeit wurden das Verfassungsgericht erheblich geschwächt, die öffentlich-rechtlichen Medien in ihren Rechten beschnitten und die Befugnisse der Geheimdienste ausgeweitet. Beobachter der polnischen Politik, vor allem aber viele Polen selber, reagierten bestürzt auf die handstreichartigen Entscheidungen ihrer neuen Regierung. Erhebliche Teile der Wählerinnen und Wähler fühlten sich betrogen und trugen ihren Protest auf die Straße. Aber auch in Europa wird nun eine hitzige Debatte über den angemessenen Umgang mit den Ereignissen in Polen geführt.
In Deutschland herrscht Einigkeit darüber, dass das Vorgehen der polnischen Regierung Anlass zu großer Sorge gibt. Aber sollte offene Kritik geäußert werden, auch auf die Gefahr hin, Jaroslaw Kaczyński und seine PiS zu reizen und gleichzeitig die polnische Bevölkerung gegen Europa aufzubringen?
Kritik muss unter EU-Mitgliedstaaten erlaubt sein, wenn die Grundwerte, zu denen sich alle freiwillig verpflichtet haben, von einer Regierung so konsequent und radikal in Frage gestellt und eingeschränkt werden. Aber natürlich kommt es auf den Ton an. Unsere Kritik sollte angemessen formuliert sein, “auf Augenhöhe” stattfinden und nicht bevormunden. Es gilt, darauf zu achten, dass sie sich deutlich gegen die Politik der Regierung richtet und nicht gegen die Bevölkerung des betroffenen Landes. Zudem sollte die Wirkung der Kritik in Deutschland und den anderen EU-Mitgliedstaaten nicht unterschätzt werden. An einem Schüren antipolnischer Ressentiments kann niemand Interesse haben.
Dennoch: Ein so offensichtlicher Bruch der polnischen Verfassung sowie der Regeln und Grundwerte der Europäischen Union muss auch als solcher bezeichnet werden. Es ist deshalb konsequent, dass die EU jetzt zum ersten Mal ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit auf der Grundlage des 2014 eingeführten „EU-Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ eingeleitet hat. Dieses niedrigschwellige Verfahren hat zum Ziel, mögliche Gefährdungen der gemeinsam vereinbarten Grundwerte im Dialog zwischen EU-Kommission und betroffenem Mitgliedstaat auszuräumen. Erst am Ende eines dreistufigen Prozesses stünde die Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 7 des EU-Vertrages. Der vielfach vorgetragene Vorwurf, dass es sich dabei um ein stumpfes Schwert handele, ist nicht von der Hand zu weisen. Nichtsdestoweniger ist die Einleitung des Verfahrens aber ein klares politisches Signal jenseits von kritischen Äußerungen einzelner Personen oder Institutionen.
Die derzeitige Vertrauenskrise im deutsch-polnischen Verhältnis kann nur durch konstruktiven Dialog aufgehalten werden.
Macht die Szydlo-Regierung, angetrieben durch den PiS-Vorsitzenden Kaczyński, so weiter wie bisher, dann – kein Zweifel – wird die Demokratie in Polen systematisch ausgehöhlt. Dies erinnert an das Vorgehen von Viktor Orbán in Ungarn, der die Errichtung einer „illiberalen Demokratie“ als Ziel seines Staatsumbaus bezeichnete. Mit Kritik von außen allein, freilich, lässt sich ein solch eindeutiges Streben nach uneingeschränkter Macht ohne Rücksicht auf die Demokratie nicht abstellen. Unsere Kritik an der polnischen Regierung sollte daher immer einhergehen mit klaren Gesprächsangeboten. Ziel muss es sein, den Dialog – sowohl mit der Regierung und den Parlamentariern als auch mit Vertretern der Zivilgesellschaft – aufrecht zu erhalten oder, wo nötig, neu zu beleben.
Unsere Bereitschaft dazu besteht, auch wenn sich die PiS zurzeit einem Austausch über die Grundwerte in Europa verweigert und lieber auf gezielte Provokationen setzt. Es würde der polnischen Regierung in die Hände spielen, wenn sich tatsächlich Anlass zum Vorwurf böte, dass Deutschland Polen von oben herab belehrt. Die derzeitige Vertrauenskrise im deutsch-polnischen Verhältnis kann nur durch konstruktiven Dialog aufgehalten werden.
Auf eben diesen Dialog setzen Opposition und Zivilgesellschaft in Polen. Denn trotz des deutlichen Wahlsieges vertritt die PiS beileibe nicht die Ansichten der Mehrheit der polnischen Bevölkerung. So konnte sie eine absolute Mehrheit im Sejm mit 37,6 Prozent der Stimmen und einer Wahlbeteiligung von lediglich 51,6 Prozent erringen. Zudem sind die Umfragewerte der PiS bereits kurz nach der Wahl gesunken, als durch die ersten Maßnahmen deutlich wurde, welches Ziel die neue Regierung verfolgt.
Es gibt in Polen eine starke Zivilgesellschaft, und wir sollten das Vertrauen in sie nicht verlieren. Seit Wochen demonstrieren Zehntausende immer wieder gegen die so genannten Reformen. Wenn die polnische Regierung berechtigte Kritik aus Europa also als Einmischung in innerpolnische Angelegenheiten diffamiert, ignoriert sie dabei völlig die Protestbewegung im eigenen Land, die genau dieses Einmischen von Seiten Deutschlands und Europas fordert. In der europäischen Kulturhauptstadt Wrocław (Breslau) zeigt sich gerade das andere Polen – progressiv, offen, europäisch und nicht patriotisch und eben nicht historisierend, wie die Kulturförderung nach den Plänen der Regierung zukünftig erfolgen soll. So stellte der Bürgermeister von Wrocław fest, dass Europa die Zukunft Polens sei und man diese Botschaft nach Europa senden wolle.
Kritik an undemokratischen Tendenzen in Europa darf dabei nicht entlang von Parteigrenzen geübt werden, wenn sie glaubwürdig bleiben soll. Es ist daher schon bemerkenswert, wie unterschiedlich sich die Unionsparteien in der gegenwärtigen Debatte verhalten. Während Polen auch aus den Reihen der Union kritisiert wird, haben CDU und CSU bei den mindestens ebenso kritikwürdigen Reformen in Ungarn vielsagend geschwiegen. Da die polnbische PiS im Europaparlament zu den rechtslastigen “Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) gehört, (zu denen u.a. auch die AfD zählt), scheint es der CDU/CSU deutlich leichter zu fallen, die nötige Kritik zu äußern als bei der ungarischen Fidesz unter ihrem Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten Orbán. Sie ist schließlich, wie die CDU/CSU, Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP). Aus politischem Kalkül bei einem Land zu schweigen, während man das andere kritisiert, entwertet berechtigte Kritik. Wenn es, wie bei der aktuellen Debatte um die grundsätzliche Einstellung der Mitgliedstaaten zu den europäischen Grundwerten geht, sollten wir nicht mit zweierlei Maß messen.
Wenn es, wie bei der aktuellen Debatte um die grundsätzliche Einstellung der Mitgliedstaaten zu den europäischen Grundwerten geht, sollten wir nicht mit zweierlei Maß messen.
Gerade angesichts der aktuellen Verfasstheit der EU scheint es mir eine gute Idee zu sein, dass im 25. Jahr des so genannten Weimarer Dreiecks dieses Format neu belebt werden soll. Die Regierung in Polen erwartet, insbesondere von Deutschland und Frankreich auf Augenhöhe wahrgenommen zu werden. Das ist, angesichts der beeindruckenden Aufbauleistung Polens, nur allzu berechtigt. Doch bisher wird Ministerpräsidentin Szydlo ihrer Verantwortung nicht gerecht. Zu sehr lässt sie sich ihre Politik von einem paranoiden Parteichef diktieren. Europa braucht Polen und ist zum Dialog bereit. Allerdings sollte sich die polnische Regierung ebenfalls bewusst sein, dass Polen auch Europa braucht.
So hat Deutschland nicht gezögert, auf die polnischen Sicherheitsinteressen einzugehen und als Reaktion auf die Annexion der Krim durch Russland seine Präsenz in der NATO zu stärken und die Führung bei den sogenannten Rückversicherungsmaßnahmen des Bündnisses zu übernehmen. Das war keine Selbstverständlichkeit! Auch das unermüdliche Engagement des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder für den Beitritt zur EU scheint die neue Regierung in Warschau in ihrer von Ressentiments gegenüber Deutschland geprägten Politik vergessen zu haben.
Nach der Rede von Ministerpräsidentin Szydlo kürzlich vor dem Europäischen Parlament in Straßburg jubelte Außenminister Waszczykowski: „Während der Debatte wurde eine neue europäische Führerin geboren.“ Setzt die Regierungschefin ihre jetzige Politik fort, dann wird sie weder als eine polnische, noch als eine europäische Führerin in die Geschichte eingehen.
Niels Annen ist außenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und Mitglied im SPD-Parteivorstand. Von 2011 bis 2013 war er Referent im Bereich Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung und zuvor von 2010 bis 2011 Senior Resident Fellow des German Marshall Funds in Washington (D.C.). Bereits von 2005 bis 2009 war Annen Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages und von 2001 bis 2004 Bundesvorsitzender der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD. Seit 2005 ist Annen zudem Herausgeber der Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft