Adieu – Osteuropa
Rezension von Dr. Aide Rehbaum
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Jacob Mikanowski: Adieu – Osteuropa. Kulturgeschichte einer verschwundenen Welt

Mikanowski, der Wissenschaftsjournalist mit fundierten literaturgeschichtlichen Kenntnissen, hat immense Vorarbeit geleistet, indem er entlang seiner Familiengeschichte die mehr als bewegte Vergangenheit Osteuropas darzustellen versucht. Der Autor reiste vom Baltikum bis zur Krim und ans albanische Mittelmeer, suchte Friedhöfe und Wüstungen auf, entdeckte Kirchen und Synagogen in mehr oder weniger Verfall, befragte die Bevölkerung nach Überlieferungen, wertete Zeitungen aus und ethnologische Bearbeitungen, geht auf Geschichtsklitterung und bewusste Fälschungen ein und schlägt den Bogen von der Christianisierung bis heute.
Bis Mitte des 17. Jh. gehörte der größte Teil der Westukraine zu Polen-Litauen. Dieses Land hatte sich aus dem 30jährigen Krieg herausgehalten und wurde deshalb zum Zufluchtsort von jeder Art Glaubensflüchtlingen. Die jeweiligen Herrscher versuchten jahrhundertelang nicht, wie in Mittel- und Westeuropa, ihre Untertanen mit Zwang zu vereinheitlichen (das schaffte erst der Kommunismus), sie schienen liberaler, indem sie die Unterschiede betonten. Dieses Rezept diente aber genauso zum Machterhalt.
Polen-Litauen besaß keine effektive Regierung und war den Überfällen der Tataren ausgesetzt. Die Tataren, die selbst vor den Mongolen flüchteten, versklavten die Bewohner und verkauften sie u.a. an die Türken. Als sie um Schutz ersuchten, instrumentalisierte man sie als Grenzverteidiger und erlaubte die Ansiedlung. Die Ukrainer bauten Grenzbefestigungen und siedelten dort Söldner an, genannt Kosaken. Als diese nach Beendigung der Kriege gegen die Osmanen nicht mehr gebraucht wurden, adelte Katharina d.Gr. die mächtigsten. Für Gebiete, die durch Kriege oder Seuchen entvölkert waren, wurden Ausländer angeworben (Banat, Bukowina, Siebenbürgen). Grundherren und Bauern hatten höchstens den Glauben gemeinsam, seltener die Sprache. Abgrenzung herrschte meist bis in die kleinsten Weiler. Das verschlimmerte sich vor allem, nachdem der Nationalismus an der Sprache festgemacht wurde.
Besonders beklemmend ist das Kapitel über den Stalinismus, das die aktuellen Ängste der Bevölkerung angesichts des Krieges von Putin plastisch umreißt. Denn Generationen vor ihnen mussten immer wieder Ähnliches durchleben. „Den Prozess der sozialen Säuberung durch Massenvertreibung und Verhaftungen wiederholte die Sowjetunion in jedem der annektierten Gebiete.“ Die Zerschlagung der 1939 unterworfenen baltischen, ukrainischen und ostpolnischen Gesellschaften funktionierte –mit kurzer deutscher Unterbrechung- bis 1991.
Für Leser, deren Vorfahren aus den bearbeiteten Gebieten stammen, wenig über ihre Familiengeschichte erzählten oder die Hintergründe nicht durchschauten, eröffnen sich neue Horizonte, denn die in Schulbüchern dargestellte Herrschaftsgeschichte kann bestenfalls vage Hinweise liefern. Am einprägsamsten ist die Vielfalt der Sprachen vor dem Ersten Weltkrieg, die oft wechselnde Gebietszugehörigkeit, die den Bewohnern größte Flexibilität abverlangte, aber auch Quelle vielfältigen Leids für den Einzelnen bedeutete.
Mikanowski schreibt unterhaltsam, fokussiert auf die kleinen Leute. Historiker werden daran vielleicht Anstoß nehmen, dass er scheinbar willkürlich Anekdoten, Gerüchte und Histörchen aneinanderreiht, aber das illustriert den verwirrenden Zustand, der die Region kennzeichnet. Leider fehlen Karten und die Abbildungen sind fast alle von Alamy Stock, da hätte es doch zumindest authentischere Quellennachweise gegeben.
Jacob Mikanowski, Historiker, Kritiker und Publizist, schreibt u.a. für den «New Yorker», den «Guardian» und die «New York Times». Er wurde 1982 in den USA geboren, als sein polnisch-jüdischer Vater und seine Mutter aus adliger ungarischer Familie aufgrund des in Polen verhängten Kriegsrechts nicht in ihre Heimat zurückkehren konnten.
- Verlag: Rowohlt Berlin
- Erscheinungstermin: 16.05.2023
- Lieferstatus: Verfügbar
- 512 Seiten
- ISBN: 978-3-7371-0139-4
- Autor: Jacob Mikanowski
- Übersetzt von: Andreas Wirthensohn