Nur gemeinsam geht’s

Solange nukleare Abschreckung von allen NATO-Partnern als notwendig angesehen wird, kann sich Deutschland nicht einseitig zurückziehen.

Nur im Verbund sind sie stark. (Val Kilmer and Tom Cruise in Top Gun) © Paramount Pictures

Die SPD tritt seit langem für eine atomwaffenfreie Welt ein. Das tut sie auch heute. Trotzdem haben alle bisherigen SPD-Regierungen das Konzept der nuklearen Abschreckung und der nuklearen Teilhabe Deutschlands mitgetragen. Das hat ernstzunehmende Gründe.

Solange es Nuklearwaffen gibt, braucht man eine wirksame Strategie, um deren Einsatz zu verhindern. Bisher geschieht das dadurch, dass jeder, der diese Waffen einsetzt,  damit rechnen muss, selbst zerstört zu werden. Dazu braucht es eine glaubwürdige nukleare Fähigkeit, auf einen Angriff mit massiver Vergeltung reagieren zu können. Das Dilemma: Man muss Atomwaffen glaubhaft einsetzen können, um den Einsatz von Atomwaffen zu verhindern. Diese Abschreckungslogik kann man mit guten Argumenten kritisieren, aber in der realen Politik hat sie funktioniert. Deshalb sehen alle NATO-Mitgliedstaaten die nukleare Abschreckung bis heute als unverzichtbaren Teil glaubwürdiger Abschreckung der Allianz an.

Die nukleare Teilhabe ist dabei nicht nur ein Instrument des „burden sharing“. Vielmehr sorgt die Allianz auf diese Weise dafür, dass die Sicherheit Europas an die amerikanische gekoppelt bleibt und es keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit in der NATO gibt. Dieses Konzept war im Übrigen auch eine Antwort auf die Debatte um eine eigene atomare Aufrüstung Deutschlands Ende der 50er Jahre. Damals misstraute die Adenauer-Regierung der Schutz-Zusage der Amerikaner.

Die Stationierung von US-Nuklearwaffen in Europa unter Einbeziehung europäischer Staaten soll also vor allem das Dilemma unterschiedlicher Sicherheitszonen beheben. Als wie wichtig die NATO und ihre Mitglieder die nukleare Teilhabe noch immer ansehen, zeigt die Brüsseler Erklärung des NATO-Gipfels von 2018: „Das nukleare Abschreckungsdispositiv der NATO beruht auch auf vorwärtsdislozierten Kernwaffen der USA in Europa und auf Fähigkeiten und Infrastrukur, die von den betreffenden Verbündeten bereitgestellt werden.“

Man kann durchaus hinterfragen, ob die nukleare Teilhabe militärtechnisch heute noch genauso fortgeführt werden muss wie bisher oder ob es dazu nicht bessere Alternativen gibt.

Man kann durchaus hinterfragen, ob die nukleare Teilhabe militärtechnisch heute noch genauso fortgeführt werden muss wie bisher oder ob es dazu nicht bessere Alternativen gibt. Aber klar ist auch: Als wirtschaftlich stärkstes und politisch wichtiges Land in Europa würde Deutschland auch in jedem anderen Szenario einen hohen finanziellen und materiellen Anteil an der Aufrechterhaltung der NATO-Abschreckungsfähigkeit liefern müssen.

Es gibt sehr berechtigte Zweifel, ob eine Aufkündigung der atomaren Teilhabe durch Deutschland die Abrüstung voranbringt und zur Entspannung beiträgt. Möglicherweise würde sogar das Gegenteil eintreten. Zuallererst würde sie die Debatte um die Lastenteilung innerhalb des Bündnisses erneut befeuern. Der Vorwurf stünde im Raum, dass Deutschland ein sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer sei. Zum zweiten würde sie die Unsicherheiten bei unseren östlichen Verbündeten vergrößern, denn die russische Bedrohung verschwindet ja nicht durch einen deutschen Rückzug aus der nuklearen Teilhabe.

Polen bemüht sich schon lange um eine stärkere amerikanische Präsenz. Es ist sehr gut vorstellbar, dass es sich dann um die nukleare Teilhabe bewirbt. Sollte eine US-Administration diesem Wunsch nachgeben, wäre die NATO-Russland-Grundakte endgültig Geschichte. In dieser ist unter anderem festgehalten, dass die NATO keine Nuklearwaffen auf dem Hoheitsgebiet der osteuropäischen Mitgliedstaaten stationiert. Russland würde solch eine Stationierung wohl als gestiegene Bedrohung wahrnehmen und mit weiteren Rüstungsschritten antworten. Der abrüstungstechnisch gutgemeinte Impuls könnte am Ende also zu mehr Unsicherheit und mehr Aufrüstung führen.

Der abrüstungstechnisch gutgemeinte Impuls könnte am Ende also zu mehr Unsicherheit und mehr Aufrüstung führen.

Vor allem würde ein einseitiges Vorgehen Deutschlands den politischen Zusammenhalt der NATO und damit insgesamt die Glaubwürdigkeit der Abschreckung untergraben. Die vom französischen Präsidenten mit der Provokation vom „Hirntod“ der NATO angestoßene Debatte zeigt, wie schwierig die Situation im Bündnis ohnehin ist. Deutschland kann kein Interesse daran haben, die NATO politisch weiter zu schwächen. Eine geeinte NATO bleibt ein wichtiger Anker in einer zunehmend unruhigen Welt. Wenn wir das Konzept der nuklearen Abschreckung und der nuklearen Teilhabe neu diskutieren wollen, dann muss das gut vorbereitet zuallererst mit den Bündnispartnern geschehen.

Dafür gibt es auch Verfahren. Auf dem NATO-Gipfel im letzten Jahr wurde eine Expertengruppe beauftragt, Vorschläge zur Zukunft der Allianz zu entwickeln. Das Mandat beinhaltet drei übergeordnete Ziele: (1) Stärkung der Einheit und Solidarität; (2) Stärkung der Kooperation zwischen Alliierten; (3) Stärkung der politischen Rolle des Bündnisses im Umgang mit aktuellen und künftigen Herausforderungen. Hier gehört die Debatte um die Zukunft der atomaren Teilhabe hin.

Die Frage, ob die NATO als politisches Bündnis funktioniert, ist die alles entscheidende Frage. Denn die NATO ist auf nichts so sehr angewiesen wie auf gemeinsame politische Überzeugungen. Ohne gemeinsame Analysen, ohne strategischen Dialog und ohne eine faire Lastenteilung kann das Bündnis seinen Auftrag nicht erfüllen.

Auch Abrüstungsinitiativen müssen also im strategischen Dialog mit den Bündnispartnern erarbeitet werden, beispielsweise im Rahmen der Entwicklung eines neuen strategischen Konzepts. Nur so bekommen sie ein Gewicht, das wirklich zu besserer Rüstungskontrolle und Abrüstung führen kann. Niemand kann ernsthaft glauben, dass nukleare Abrüstung ohne die aktive Mitarbeit der Atomwaffen-Staaten gelingen kann. Deutschland ist ein wichtiger NATO-Partner. Dieses Gewicht sollte es einsetzen, um gemeinsam mit den Mitgliedstaaten Abrüstungsinitiativen international voranzubringen.

Deutschland ist ein wichtiger NATO-Partner. Dieses Gewicht sollte es einsetzen, um gemeinsam mit den Mitgliedstaaten Abrüstungsinitiativen international voranzubringen

Übrigens kann auch eine Annäherung mit Russland, die für die Sicherheit in Europa wichtig wäre, nur dann gelingen, wenn Deutschland fest im Bündnis verankert ist und eine Entspannungspolitik gegenüber Russland von der NATO glaubhaft mitgetragen wird. Durch einseitige deutsche Abrüstungsschritte wird sich Moskau nicht beeindrucken lassen.

Beim Scheitern des INF-Vertrages haben wir allerdings auch gesehen, wie schwer es war, ein gemeinsames Vorgehen innerhalb der NATO zu erreichen. Das deutet an, dass es auch in Zukunft nicht leicht sein wird, eine gemeinsame Linie in Fragen von Rüstungskontrolle und Abrüstung zu finden. Es bleibt uns dennoch kein anderer Weg, denn am Beispiel INF-Vertrag haben wir auch gesehen, dass sich die Führung in Moskau allein durch deutsche und europäische Bemühungen um den Erhalt des Vertrages nicht von ihrem Konfrontationskurs hat abbringen lassen.

Der Rückfall in einen globalen Wettbewerb der Großmächte hat das Umfeld für Rüstungskontrolle und Abrüstung deutlich verschlechtert. Dazu kommen die Entwicklung neuer Waffensysteme und andere Bedrohungsszenarien wie zum Beispiel über den Cyberraum. Dennoch bietet die durch die Corona-Pandemie angespannte wirtschaftliche Lage auch neue Gründe für die Begrenzung von Rüstungsausgaben. Diese Chance sollten wir nutzen.

In den nächsten Monaten wird zunächst alles darauf ankommen, den letzten verbliebenen Vertrag über die Begrenzung strategischer Atomwaffen New START zu erhalten. Zwar ist Deutschland auch hier kein unmittelbarer Vertragspartner, wir sollten aber die strategische Debatte in der NATO nutzen, um die Regierung in Washington von einer Verlängerung des Vertrages zu überzeugen.

Rüstungskontrolle und Abrüstung setzen einen entsprechenden politischen Willen oder zumindest eine politische Einsicht voraus. Deshalb wird es weiter darauf ankommen, in vertrauensbildende Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit zu investieren. Wirkliche Sicherheit kann es letztlich nur im Miteinander der Staaten geben. Deutschland hat über die Zeit viel internationales Vertrauen aufgebaut. Dieses müssen wir jetzt nutzen, um zu vermitteln und kooperative Lösungen in der internationalen Sicherheitspolitik zu fördern.

Christoph Matschie ist Mitglied des Deutschen Bundestags und stellvertretender außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Von 2009 bis 2014 war er Kultusminister und stellvertretender Ministerpräsident von Thüringen und von 1999 bis 2014 Landesvorsitzender der SPD Thüringen.

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