Die Frauen vom Meer
Deniz Selek, Die Frauen vom Meer, 2016
Mit dem Buch versucht die Autorin eine Biografie der Frauen ihrer väterlichen türkischen und der deutschen mütterlichen Familie von 1920 bis heute – ein gewaltiges Unterfangen. Zentrales Thema und roter Faden sind das Fremdsein. Deniz Selek selbst versteht sich als Klammer zwischen den Kulturen. Die Dialoge sind zwar fiktiv, doch die Story beruht auf der Realität.
Eingebettet in eine Rahmenhandlung mit der sterbenden Ferah, die träumend mit ihrem Vater die Orte ihres Lebens besucht, erfahren wir die Geschichte. Sie beginnt bei ihrer Mutter Seza, einer Tatarin, die früh ihre Eltern verlor und nach dem Ersten Weltkrieg bei den wohlhabenden Großeltern lebte. Diese wurden im Zuge der Unabhängigkeit Bulgariens enteignet und landeten nach der Vertreibung in Köstence in Rumänien. Da marodierende Soldaten immer noch das Leben bedrohen und außer einer unerträglichen Tante kein Verwandter mehr lebt, will Seza weg. Mit ihrem Mann Sercan, der aus Trabzon stammt und als Kapitän eines Frachtschiffes auf dem Schwarzen Meer nur alle paar Monate kommt, hat sie Tochter Ferah. Als Seza immer mehr drängt, sie in die Türkei zu seiner Großfamilie mitzunehmen, gibt er eines Tages vor, eine Fracht nach Kalkutta bringen zu müssen. In Wirklichkeit mustert er ab und bleibt in Trabzon bei seiner anderen Frau und Kindern, die er Seza verheimlicht hat.
Ein paar Jahre später entschließt sich Seza, dem Aufruf Kemal Atatürks an die Auslandstürken zu folgen und in die Türkei zu übersiedeln, wo nach der Vertreibung der Griechen viele Gegenden nur noch dünn besiedelt sind. Die Tatarin zahlt einen hohen Preis dafür, dass sie sich an die strengere Reglementierung der Frauen in der Türkei anzupassen versucht und wieder heiratet. Die selbstbestimmte Frau verliert ihre Eigenständigkeit und wird vor lauter Kompromissen krank.
Im Zweiten Weltkrieg rettet sich Julie, die deutsche Uroma der Autorin, frisch entbunden mit Elisabeth, ihrer Tochter, nach Pommern zu Mutter Käthe. Julie stirbt während der zweiten Schwangerschaft an einer Embolie. Elisabeth flüchtet mit ihrem Vater vor den Russen und muss sich im Westen an eine Stiefmutter gewöhnen. Als junge Frau verliebt sie sich in Ferahs Sohn Haldun, der in den 1960er Jahren in Deutschland Architektur studiert.
Alle porträtierten Frauen verlieren früh empathische Bezugspersonen und heiraten nicht aus Liebe, sondern um aus ihren emotionsarmen und ärmlichen Elternhäusern herauszukommen. So taumeln sie doch nur in ungeahnte neue Schwierigkeiten.
Man merkt deutlich, wie schwierig es für die Autorin war, mit literarischen Mitteln einerseits die Spannung zu erhöhen, hier wäre mehr Mut zur Übertreibung angebracht gewesen. Andererseits scheut sie davor zurück, sich wirklich auf die Dramen einzulassen und schafft Distanz, indem sie ausgerechnet die tragischsten Begebenheiten nicht unmittelbar passieren lässt und psychologisch ausschöpft, sondern recht kursorisch darüber berichtet: beispielsweise überzeugt die Verzweiflung der verlassenen Seza nicht recht. Offensichtlich steht die Rücksichtnahme auf die lebenden Protagonisten im Wege, die bei Überspitzung ein Veto eingelegt hätten.
In den 1960er Jahren, als die Deutschen bestenfalls Rimini und den Gardasee als Auslandsreiseziel kannten, fährt die unbedarfte Elisabeth mit ihrem türkischen Verlobten nach Istanbul und erlebt eine andere Welt: Gastfreundschaft, Sippenzusammenhalt, orientalische Genüsse. Für sie ist der Unterschied drastischer als es für andere Deutsche wäre, da sie aus einer konservativen und besonders kontaktarmen Familie stammt. Sie löst danach, abgestoßen von den fremden Sitten, die Verlobung, heiratet aber aus Vernunftgründen nach einiger Zeit dennoch und übersiedelt mit ihrem Mann Haldun sogar zu Schwiegereltern, Schwägerinnen und Schwiegeroma, von denen sie in jeder Hinsicht gegängelt wird. Was für ein Konfliktpotential! Die Anpassungsprobleme Elisabeths werden zwar nachvollziehbar beschrieben, aber so recht unter die Haut gehen die haarsträubenden Katastrophen nicht.
Alle Frauen verlieren ihre Wurzeln und leiden unter den Rollenerwartungen ihrer Umgebung. An Wortwahl, schlichtem Satzbau, häufigen Wiederholungen (das Verb „genießen“ fällt besonders oft auf) merkt man, dass die Autorin bisher Kinderbücher veröffentlicht hat. Die Schauplätze, die sie bereist hat, werden mit allen Sinnen erlebbar und durch sparsam eingestreute türkische Begriffe und Sätze authentisch, hätten stellenweise noch spezifischer dargestellt werden können (z.B. S.66: „Längst vergessen geglaubte Düfte berührten ihre Sinne, sie schmeckte Dinge, als würde sie sie zum ersten Mal kosten, wie damals. Sie erinnerte sich an Gesichter, gesprochene Sätze und gedachte Worte.“ Ja, welche denn? Hier hat sie Möglichkeiten für Vergleiche und exotische Details verschenkt.)
Das Thema Zwangsumsiedlungen nach dem Ersten Weltkrieg im gesamten Balkangebiet und Rückführung der Türken ist kaum bekannt und spannend. Da hätte ich gerne noch Tiefergehendes gelesen, um es mit der Vertreibung der Deutschen zu vergleichen. Dennoch eine unterhaltsame Familiengeschichte.
Dr. Aide Rehbaum
Klappenbroschur, Droemer TB
02.05.2016, 400 S.
ISBN: 978-3-426-30455-6
€ 14,99
E-Book € 12,99