Peter Bofinger schlägt vor, für die Nach-Corona-Zeit über regional differenzierte Mindestlöhne nachzudenken.

Was es zu verhindern gilt: Vincent van Gogh, Die Armen und das Geld © Amsterdam, Rijksmuseum

In Deutschland stieß die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns im Januar 2015 bei vielen Ökonomen auf große Skepsis. Die Mehrheit des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung schrieb vorab in seinem Jahresgutachten 2013/14 (Ziffer 486): „Ein flächendeckender Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro, wie er derzeit für Deutschland erwogen wird, würde hierzulande eine nennenswerte Anzahl von Beschäftigten treffen und damit ein vergleichsweise hohes Risiko von Beschäftigungsverlusten mit sich bringen.“

Die weitere Entwicklung des deutschen Arbeitsmarktes wurde seither in zahlreichen Studien und Analysen untersucht. Alle weisen nach, dass der Mindestlohn das Einkommen im Niedriglohnsektor erhöht, ohne sich negativ auf die Beschäftigung auszuwirken.

Trotz der positiven Beurteilung stellt sich die Frage, ob die mit dem Instrument Mindestlohn anstrebten Ziele auch erreicht wurden. Im größeren Kontext geht es hier vor allem darum, dass die Lebenshaltungskosten, die Geringverdiener besonders zu spüren bekommen, innerhalb eines Landes stark variieren. Eine Studie von Herzog-Stein et al. (2018) gelangt zu dem Schluss, dass der Mindestlohn besonders in vielen Großstädten mit rapide steigenden Wohnkosten häufig die Armutsgrenze unterschreitet. „Nach Berechnungen des WSI [Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut] liegt der notwendige Stundenlohn für Vollzeitbeschäftigte mit einer durchschnittlichen tarifvertraglichen Wochenarbeitszeit von 37,7 Stunden in 19 der 20 größten Städte Deutschlands derzeit deutlich oberhalb des aktuell gültigen Mindestlohns von 8,84 Euro [….].“

Höhere, regional differenzierte Mindestsätze findet man in Kanada, den Vereinigten Staaten und Japan.

So fragt sich, ob es nicht sinnvoll wäre, den landesweiten Mindestlohn durch höhere, regional differenzierte Mindestsätze zu ergänzen. Diese findet man in Kanada, den Vereinigten Staaten und Japan:

  • Japan hat derzeit einen landesweiten Mindestlohn von 901 Yen pro Stunde; dieser dient allerdings nur als Richtwert für die Mindestlöhne, die auf regionaler Ebene festgelegt werden.
  • In Kanada werden Mindestlöhne ausschließlich auf Provinzebene festgesetzt.
  • In den USA gibt es ein dreigliedriges System mit einem landesweiten Mindestlohn sowie Mindestlöhnen in den Bundesstaaten und – in mehreren Staaten – zusätzlich auf kommunaler Ebene.

Dabei ist die Bandbreite in den USA sehr groß, wohingegen in Japan und Kanada der höchste Mindestlohn etwa 30 Prozent über dem niedrigsten liegt.

Regional differenzierte Mindestlöhne könnten gezielter als ein einheitlicher Mindestlohn die Situation von Beschäftigten verbessern.

Mikroökonomisch lassen sich regional differenzierte Mindestlöhne als eine Art Preisdifferenzierung verstehen. Aus der mikroökonomischen Theorie wissen wir, dass im Vergleich zu einem Einheitspreis Preisdifferenzierung einem Anbieter immer Vorteile bringt: Dank der Preisdifferenzierung kann er einen Teil der Konsumentenrente einstreichen.

Regional differenzierte Mindestlöhne könnten somit gezielter als ein einheitlicher Mindestlohn die Situation von Beschäftigten verbessern. In den Vereinigten Staaten erkannte man das bereits in den 1960er Jahren. Noch heute lohnt sich ein Blick in die Erläuterung der New Yorker Stadtverwaltung zur Verabschiedung eines städtischen Mindestlohngesetzes im Jahr 1962:

[Einige] Beschäftigte in bestimmten Berufen erhalten Löhne, die im Verhältnis zu den Lebenshaltungskosten in der Stadt und einem für die Gewährleistung eines Mindestlebensstandards notwendigen Einkommen nicht ausreichen, um sich und ihre Familien angemessen zu versorgen; da die Beschäftigung zu solchen Löhnen die Gesundheit, die Leistungsfähigkeit und das Wohl der Betroffenen und ihrer Familien beeinträchtigt, entsteht ein unfairer Wettbewerb mit anderen Arbeitgebern und ihren Beschäftigten. […] Die Beschäftigung von Personen zu dermaßen unzureichenden Löhnen gefährdet die Gesundheit, das Wohl und das Wohlbefinden der Menschen in der Stadt und schadet der städtischen Wirtschaft.

In dieser heiklen Situation bieten regionale Mindestlöhne die Chance, die finanzielle Situation der Beschäftigten in Großstädten flexibel und gezielt zu verbessern.

Nicht viele Studien haben sich mit den Auswirkungen regionaler Mindestlöhne befasst. John Schmitt und David Rosnick (2011) weisen für Santa Fe und San Francisco nach, dass ein städtischer Mindestlohn das Einkommen von Geringverdienern erhöhen kann, ohne sich erkennbar negativ auf die Beschäftigung auszuwirken. Manzo et al. (2018) gelangen für Chicago zu einem ähnlich positiven Ergebnis. Während Reich et al. (2017) in der Lebensmittelindustrie keine negativen Effekte auf die Beschäftigung erkennen, konstatieren Jardim et al. (2018) für „die Hälfte der Beschäftigten mit wenig Berufserfahrung anteilig eine Reduzierung der Arbeitsstunden“, die „unserer Schätzung nach den Lohnzuwachs vollständig aufhob, sodass sich das Einkommen nicht signifikant veränderte“.

Die wachsende Beliebtheit dieses Instrumentes, besonders in Kalifornien, deutet insgesamt darauf hin, dass aus Sicht kommunaler Verwaltungen alles in allem positive Effekte zu erwarten sind. Gab es vor 2012 in den USA nur fünf regionale Mindestlöhne, so sind es auf Stadt- und Kreisebene heute 50.

Da die negativen Auswirkungen der Coronakrise auf die Arbeitsmärkte vermutlich noch ein paar Jahre anhalten werden, dürfte es schwierig sein, spürbare Erhöhungen des landesweiten Mindestlohns durchzusetzen. In dieser heiklen Situation bieten regionale Mindestlöhne die Chance, die finanzielle Situation der Beschäftigten in Großstädten flexibel und gezielt zu verbessern. In Europa sollte man sich die überwiegend positiven Erfahrungen dieses Ansatzes in den USA jedenfalls genauer ansehen.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.

Aus dem Englischen von Anne Emmert

Peter Bofinger lehrt an der Universität Würzburg als Professor für Volkswirtschaftslehre. Von März 2004 bis Ende Februar 2019 war er Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirt-schaftlichen Entwicklung.

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