Berufsarmee, Wehrpflicht, Kriegsdienstverweigerung: Zwei Comics über die Rolle des Militärs in der deutschen und US-amerikanischen Gesellschaft.

Der langjährige Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr endet in diesen Wochen, einigermaßen überstürzt und ohne dass die Situation vor Ort sich entscheidend verbessert hätte. Kurz zuvor wurde das Engagement in Mali, das nun auch schon seit 2013 läuft, erneut verlängert, ohne dass hier bessere Aussichten auf Erfolg klar erkennbar wären. Der Bundestag debattiert und beschließt, aber wird über die Rolle der Bundeswehr in der internationalen Politik noch ausreichend gesellschaftlich diskutiert, seit sie faktisch eine Berufsarmee ist?

In den USA, deren Entscheidung zur Beendigung des Afghanistan-Einsatzes die Bundesregierung unter Druck setzte, beteiligten sich am 6. Januar 2021 zahlreiche ehemalige und aktive Militärangehörige am Sturm auf das US-Kapitol. Das Problem von Rechtsextremismus, Rassismus und White Supremacy in Militär und Polizei, bis hin zur Frage nach einer gezielten Unterwanderung, gibt es auch in Deutschland, zuletzt beim KSK. Haben diese Tendenzen einen Bezug zur Aussetzung der Wehrpflicht? Entsteht hier, wenn nicht ein „Staat im Staate“, dann doch ein gefährliches Netzwerk von Verfassungsfeinden und eben nicht „Staatsbürgern in Uniform“? Sind Berufsarmeen in ausreichendem Maße ein Spiegelbild der Gesellschaft, wenn sie, wie in den USA, für viele Minderheiten und Geringqualifizierte der einzige Weg zum sozialen Aufstieg sind?

Zwei neue Comics zeigen, wie durch menschliche Tragödien bedeutende gesellschaftliche Veränderungen der Rolle des Militärs und des Militärischen in Gang kamen, ohne dass aber letztlich die grundlegenden Probleme gelöst werden konnten.

Derf Backderf (2020), Kent State. Four dead in Ohio, Abrams, New York

In Kent State beschreibt Derf Backderf einen Schlüsselmoment der amerikanischen Auseinandersetzung um den Vietnam-Krieg. Bekanntlich gehören Waffen in den USA zum Alltag, genauso wie Bekenntnisse zum Patriotismus. Und obwohl es in den USA schon länger keine Wehrpflicht mehr gibt, ist es auch dort noch nicht so lange her, dass die Bereitschaft zum Dienst mit der Waffe zumindest von jungen Männern selbstverständlich erwartet wurde. Der tragische Tod von vier jungen Studenten, die gegen den Krieg protestiert hatten, durch Schüsse der Ohio National Guard 1970 stellte diese Selbstverständlichkeit infrage. Backderf zeichnet die Dramatik der Ereignisse rund um den Militäreinsatz auf dem Campus einer Universität in Ohio minutiös nach und wirft grundsätzliche Fragen zum Militarismus auf. Sie sind ungelöst; tatsächlich hat inzwischen die Militarisierung der Polizei die Auseinandersetzung noch verschärft, wie im Zusammenhang mit Black Lives Matter deutlich wurde.

Beim Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 stand zudem die Frage im Raum, ob Polizei und National Guard gegenüber Protesten von rechts nachsichtiger vorgehen. Sollte die Republikanische Partei bei den Wahlen im nächsten Jahr nicht für ihre Nibelungentreue zu Trump und dessen „großer Lüge“ einer gestohlenen Präsidentschaftswahl bestraft werden, dann wird es möglicherweise bei der nächsten Wahl 2024 auf die Haltung des Militärs ankommen. Leider spricht angesichts der systematischen Unterdrückung der Wahlbeteiligung von Minderheiten und der Manipulation der Wahlkreise durch die Republikaner (gerrymandering) viel dafür, dass die Demokraten zumindest die Mehrheit im Repräsentantenhaus verlieren werden.

Hannah Brinkmann (2020), Gegen mein Gewissen, avant verlag, Berlin

In Gegen mein Gewissen erzählt Hannah Brinkmann einen Teil ihrer eigenen Familiengeschichte. Die Tragödie ihres Onkels Hermann trug dazu bei, ein unmenschliches System zu beenden, das – wie so vieles Skandalöse aus der „alten Bundesrepublik“ – fast völlig in Vergessenheit geraten ist, obwohl es noch nicht so lange her ist. Tatsächlich sehnen sich viele Anhänger der schlechten Alternative für Deutschland gar nach einer Zeit zurück, in der Kriegsdienstverweigerer vor einem mit herrischen Ex-Soldaten besetzten Tribunal die Existenz ihres Gewissens nachzuweisen hatten. Hermann ist nicht dazu bereit, pragmatisch Auswege oder Hilfsangebote zu nutzen; er entzieht sich dem Wehrdienst nicht durch Umzug nach West-Berlin, und er lernt auch keine vorbereiteten Antworten auf die erwartbaren Fangfragen des Tribunals auswendig. Er wird eingezogen, leidet weiter und verstummt schließlich beinahe. Nicht einmal die Bundeswehrärzte erkennen seine Not an, und so sieht er am Ende keinen Ausweg mehr.

Beide Bücher sind gleichermaßen bewegend, unterscheiden sich aber stilistisch grundlegend. Backderf hat für seinen nüchternen, dokumentarischen Comic seinen Underground-Stil gezähmt und legt Wert auf umfassende Belege. Die dazu dienenden Endnoten sollte man allerdings tunlichst erst beim zweiten Durchgang lesen, um die emotionale Wucht der Erzählung nicht zu schmälern. Da die Soldaten der National Guard schon im Vorfeld des Einsatzes ihre Namensschilder überklebt hatten und die Vertuschung gleich nach den tödlichen Schüssen begann, fällt Backderf die Dokumentation der Opferseite leichter. Auch in Gegen mein Gewissen finden sich bewegende Dokumente wie z.B. Behördenschreiben, doch Brinkmann geht es vielmehr um die expressive Darstellung von Gefühlswelten und inneren Nöten. Dies gelingt ihr in beeindruckender Weise, genauso wie die atmosphärische Darstellung der 1970er Jahre, ohne dass sie den Faden der Erzählung verliert.

Wer sich übrigens dafür interessiert, auf welchen verschlungenen Pfaden die einst so geringgeschätzten Comics diese stilistische und inhaltliche Bandbreite erlangt haben und wie es zum heute gängigen Begriff Graphic Novel kam, findet viele Hinweise in Alexander Brauns gerade erschienenem großartigen Buch Will Eisner – Graphic Novel Godfather.

Dr. Thomas Greven ist Privatdozent für Politikwissenschaft an der FU Berlin, wo er am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien unterrichtet, sowie selbstständiger Autor und Politikberater.

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