von Günter Müchler

Günter Müchler

Man hat es schon immer geahnt. Es sind nicht unbedingt die großen Dinge, die unsere kleine Welt bewegen. Womit beschäftigte sich die deutsche Öffentlichkeit Ende Juli anno 2025? Mit der Zerstörung der Ukraine? Mit dem Sterben im Gaza-Streifen? Mit Donald Trumps Egotrips? Mit Hitzewelle und Brandkatastrophen, den Feuerzeichen des Klimawandels? Hauptaufreger war, wenn auch nur für einen kurzen Moment, ein Flaggenstreit, genauer: die von einer bunten, militanten Gruppe mit Bekenntniseifer vorgetragene Forderung, die Flagge schwarz-rot-gold auf dem Reichstag einzuziehen und durch das Feldzeichen der „queeren community“ zu ersetzen, die Regenbogenfahne. Irgendwann wird man über die eigenartige Streitsache nur noch den Kopf schütteln und Asterix, dem Gallier, beistimmen: Sie sind verrückt, die Deutschen.

Hinter dem Flaggenstreit steht die LGBTQ-Bewegung. LGBTQ ist ein Kürzel für Lesbisch, Gay (schwul), Bisexuell, Transgender und Queer und weitere Geschlechtsidentitäten. Traditionell feiern sich die Anhänger der Bewegung, deren Farben rot, orange, gelb, grün und blau sind, am Christopher-Street-Day (CSD). Die Aufzüge in Berlin kommen munter und schräg daher und sorgen aufgrund ihres karnevalistischen Flairs für volle Straßen und Plätze. Groß ist das Selbstbewusstsein der Betreiber. Schon 2022 beanspruchte LGBTQ für den CSD das Hissen der Regenbogenfahne auf dem Reichstagsgebäude. Die damalige Bundestagspräsidentin Bärbel Baas sagte ja. Das Tuch in der Größe von 4,5 x 7 Meter, das damals auf dem Südwestturm des Wallot-Baus flatterte, befindet sich heute im Deutschen Historischen Museum, Abteilung „Zivile Kleidung und Textilien“.

Überhaupt war 2022 war das große Jahr von LGBTQ. Die bürgerliche Mehrheit erfuhr im Zuge einer breiten, von Nichtregierungsorganisationen, Grünen und Medien geführten Umerziehungskampagne, wie trost- und phantasielos ihr Sexualleben eingerichtet ist. Man lernte neue Wörter wie „gay“, „queer“ oder „Diversity“ und staunte über die Karriere des Vielfalt-Wortes, das auf einmal in keiner Politikerrede, keiner Tagessschausendung und keinem Unternehmensauftritt fehlen durfte. Alle machten mit. Selbst Kirchengemeinden ließen es sich nicht nehmen, vor ihr Gotteshaus eine Regenbogenfahne aufzupflanzen. Ob der Deutsche Fußballbund seinen Elite-Kickern wirklich ganze Trainingseinheiten in Empathie und Nicht-Diskriminierung verordnete, ist nicht belegt. Gesichert hingegen ist, dass die Nationalmannschaft beim WM-Turnier im arabischen Katar vielfaltmäßig topfit an den Start ging. Als ihr jedoch durch den Weltverband vor dem Match gegen Japan das Tragen einer Binde mit der Aufschrift „ohne love“ untersagt wurde, war es mit der Resilienz der Truppe rasch vorbei. Das obligate Mannschaftsfoto zeigte die „Elf Freunde“ kollektiv mit der Hand vor dem Mund, als gelte es, ein Bäuerchen zu unterdrücken. Kraftlos verlor man anschließen gegen die Japaner mit 1:2.

Danach wurde es um die Vielfalt ruhiger. Der Feind der Mode ist der Overkill. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb warfen die LGBTQ-Promotoren vor dem diesjährigen CSD die Werbemaschine aufs Neue an. Die Regenbogenfahne auf der Volksvertretung sollte dokumentieren, wo sich die queere Community selbst verortet, ganz oben. Aber anders als ihre Vorgängerin im Amt widersetze sich Julia Klöckner, die neue Bundestagspräsidentin, dem Ansinnen. „Wir sind der Deutsche Bundestag“, erklärte die CDU-Politikerin markig, „und bei uns weht eine Fahne: Schwarz-Rot-Gold. Sie repräsentiert alles, wofür unser Grundgesetz steht: Freiheit, Menschenwürde – und eben auch das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Keine Fahne steht über ihr.“

Über ihr nicht. Oder doch? Oder nebendran? Vielstimmigkeit ist im Berliner Polit-Orbit die Norm. Der Zwist um die Beflaggung offenbarte die Diversität der Standpunkte in voller Schönheit. Zunächst handelte sich Klöckner empörte Stellungnahmen von Grünen und Sozialdemokraten ein. Was keine Überraschung war. Erstens ist Klöckner CDU. Zweitens singt man links der Mitte zwar nicht mehr die „Internationale“. Dafür trällert man den Vielfalts-Cantus sogar im Schlaf. Drittens bot Klöckners Ukas eine Möglichkeit, die man sich links ungern entgehen lässt: der Union das Konkubinat mit der AfD zu unterstellen.

Dabei ist die Union wie sie ist – ein weites Feld. Auch das zeigte sich im Flaggenstreit. Friedrich Merz äußerte sich in der Weise, die man inzwischen von ihm kennt: zunächst einmal kategorisch. Der Bundestag sei „kein Zirkuszelt“, ließ er sich vernehmen. Alsdann stellte sich jedoch heraus, dass für die Kanzlerpartei der absolute Vorrang für die Farben schwarz-rot-gold nur ein jahreszeitlicher ist. Am nächsten 17. Mai, der als „Internationaler Tag der LGBTQ-Community“ im Kalender steht, soll nämlich über dem Reichstag sehr wohl die Regenbogenfahne wehen. Mit Zustimmung von Merz und übrigens auch von Klöckner.

Dass dem CSU-Vorsitzenden Markus Söder eine besondere Pointe einfallen würde, damit war zu rechnen. Söder ist dafür bekannt, dass er nichts so sehr hasst wie das Erwartete. Ganz im Sinne Wilhelm II. („Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“) proklamierte der bayerische Ministerpräsident Farbenblindheit zur bajuwarischen Eigenart. „Bayern ist weltoffen und tolerant“, erklärte Söder. „Bei uns kann jeder leben und lieben, wie er möchte. Das ist die Liberalitas Bavariae. Zum Christopher Street Day in München wehen auch dieses Jahr wieder Regenbogenflaggen bei uns. Wir stehen für Miteinander und treten ein gegen Hass und Diskriminierung. Alle sollen bei uns in Freiheit ihr Glück finden.“

Polizeiberichten zufolge verlief der Christopher Street Day überall ruhig. Das Wetter war gut, die Stimmung dito. Fröhlich zogen die Queeren durch die Straßen, viele maskiert, manche tanzend, Buntheit in Vollendung. Merz lag mit seinem Zirkus-Vergleich also gar nicht so schlecht. Es stellte sich auch heraus, dass es der Party-Laune gleich ist, ob auf dem Berliner Reichstag schwarz-rot-gold weht oder, wie auf dem Gebäude des Bundesrats, rot, orange, gelb, grün und blau. Die Einwilligung zu letzterem hatte die amtierende Bundesratspräsidentin Anke Rehlinger von der SPD erteilt. Liberalitas, könnte man sagen, ist nicht nur in Bavaria zu Hause.

Also viel Lärm um nichts? Tatsächlich geht um etwas durchaus Ernstes, nämlich darum, ob Toleranz und Gleichgültigkeit ein und dasselbe sind. Der frühere Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff, ein in der Wolle gefärbter Liberaler, verwandte gern ein Bonmot: Wer nach allen Seiten offen sei, könne nicht dicht sein. Er hatte Recht. Die vom Bonmot eingeforderte Trennschärfe sollte gerade für den Bereich des Hoheitlichen gelten, für die Symbole des Staates. Es ist keineswegs austauschbar und schon gar nicht egal, unter welcher Flagge sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestags versammeln. „Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold“. So steht es in Artikel 22, Absatz 2 des Grundgesetzes.

Schwarz-rot-gold ist deutsche Freiheitsgeschichte in Farbe. Die Ursprünge gehen zurück auf den antinapoleonischen Freiheitskrieg von 1813 bis1815. Eine schwarz-rot-goldene Fahne prangte bei großen Freiheitsfest von 1832 über der Hambacher Schlossruine. Kurz vor der Märzrevolution von 1848 erklärte der damalige Deutsche Bundestag schwarz-rot-gold zu den Nationalfarben. Die Weimarer Republik griff die vom Kaiserreich unterbrochene Symbolik wieder auf, ehe die Nazis ihre eigenen Zeichen setzten. Nach 1945 entschieden sich beide Staaten, die in Deutschland entstanden, wiederum für schwarz-rot-gold. Und es kam es nicht von ungefähr, dass die Menschen, die 1989 im Osten Deutschlands auf die Straße gingen und „Wir sind das Volk“ und „Wir sind ein Volk“ riefen, schwarz-rot-goldene Fahnen mit sich trugen. Der Wunsch nach Freiheit und Einheit ließ sich nicht besser ausdrücken ließ als durch schwarz-rot-gold.

In welchem Schlafwagen saßen die Verantwortlichen des damals SPD-geführten Bundesinnenministeriums, als sie im April 2022 den Flaggenerlass modifizierten und die ausnahmsweise Beflaggung offizieller Dienstgebäude mit der Regenbogenfahne genehmigten? Man darf ohne Übertreibung behaupten, dass sich in diesem Verwaltungsakt Geschichtsvergessenheit und Opportunismus vermählten. Es genügte, dass Vielfalt „in“ war und dass die Aktivisten von LGBTQ nervten, um einen verhängnisvollen Schritt zu tun.

Queer sein ist in Ordnung. Die Gesetze erlauben es, und gegen Hindernisse in der Alltagpraxis darf man demonstrieren. Bewegungen wie LGBTQ dürfen auch auf die Nerven gehen. Nur eines dürfen sie nicht: Sich für das Ganze ausgeben. Dafür sind die Aktivisten der queeren Bewegung allerdings anfällig. Ein Beispiel ist die Gendersprache. Städtische Behörden und Hochschuleinrichtungen verwenden im Schriftverkehr Zeichen der Gendersprache, obwohl ihnen das untersagt ist. Aber der Rechtsbruch rührt sie nicht. Sie glauben, mit ihrem Anliegen für ein höheres Recht zu kämpfen. Dabei ist LGBTQ ein Einzelinteresse, und ihre Promotoren sind stinknormale Lobbyisten, von denen es viele Schattierungen gibt. „Wie sähe die Lage aus“, fragte neulich die Frankfurter Allgemeine Zeitung, würden demnächst „sozial schwache weiße Männer um Flaggenunterstützung bitten – jene also, die in der angelsächsischen Welt oft als ‚White Trash‘ verunglimpft werden?“

In Deutschland tut man sich mit staatlichen Symbolen schwer. Die Gesellschaft hat begonnen, sich in einen Archipel disparater Identitäten aufzulösen. Dieser Beobachtung dürften nur wenige Fachleute widersprechen. Das Gemeinsame, dessen gerade die pluralistische Ordnung bedarf, droht wegzudimmen. Umso wichtiger ist das Festhalten an Symbolen, auf die sich alle verständigen können, weil sie historisch für Freiheit und Recht stehen. Schwarz-rot-gold gehört zu diesem Minimalbestand. Schwarz-rot-gold ist Staatsflagge. Die LBGTQ-Fahne auf dem Haus der Volksvertretung, und sei es auch nur für einen Tag, wäre dagegen so etwas wie eine Spalterflagge.

Dr. Günter Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.