Entspannung am Ende?

Deutschland plagt sich mit Selbstzweifeln und politischen Unklarheiten. Es lohnt ein Blick auf die historische Verflechtung von Dialog und Drohung.

Der russische Angriff auf die Ukraine und die Verheerungen und Kriegsverbrechen, die in diesem Zusammenhang geschehen, stellen nicht nur die deutsch-russischen Beziehungen der jüngeren Vergangenheit und die damit verbundene Politik des Dialogs und der Verflechtung infrage. Weit darüber hinaus fordert die „Zeitenwende“ auch die in der Sozialdemokratie lange vorherrschende Doktrin der Entspannungspolitik heraus.

Egon Bahr, Willy Brandt und Harold Wilson, der Vorsitzende der britischen Labour Party, im März 1963 an der Berliner Mauer. © FES

Es wird der Vorwurf laut, bereits die Politik Willy Brandts und des „Wandels durch Annäherung“ sei in ihrem historischen Ursprung falsch oder illusorisch gewesen. Das Argument lautet, dass die militärische Stärke des Westens die Sowjetunion in den Ruin getrieben habe, während die Entspannungspolitik den weltpolitischen Gegner stabilisierte. Vor dieser Folie wird eine vermeintlich lange Linie sozialdemokratischer Appeasement-Politik gezogen, die vom Erdgasröhrengeschäft 1970 bis zu Nord Stream 2 reicht.

Die Anwürfe und auch die gegenwärtigen sozialdemokratischen Selbstzweifel beruhen jedoch auf einem fundamentalen Missverständnis. Die Politik Egon Bahrs und Willy Brandts setzte zwar einen Kontrapunkt zur atomaren Hochrüstung nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie konnte diesen aber nur angesichts eben jener Politik der Waffen setzen. Die Prämisse der Neuen Ostpolitik „Wandel durch Annäherung“, erstmals 1963 von Egon Bahr formuliert, wollte die politische und militärische Konfrontation zwischen den Blöcken in nichtkonfrontative, dialogische Bahnen lenken.

Die Überwindung des Status quo, so die Überlegung Egon Bahrs, setze voraus, diesen zu akzeptieren und damit zur Grundlage der eigenen Politik zu machen.

Der „Westen“ verzichtete in diesem Konzept auf die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der kommunistischen Staaten und sicherte zu, keinen militärischen Konflikt zu suchen. Stattdessen sollten die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen entwickelt werden. Dies stellte den Kern der Annäherungspolitik dar. Der Verzicht auf Intervention sollte wiederum im „Osten“ den Raum für innergesellschaftliche Reformen und womöglich sogar eine politische Liberalisierung öffnen. Die Politik der „Annäherung“ hatte den „Wandel“ im kommunistischen Machtbereich zum Ziel, um so den Menschen ihr Leben zu erleichtern und ihnen mehr Freiheiten einzuräumen. Die Überwindung des Status quo, so die Überlegung Egon Bahrs, setze voraus, diesen zu akzeptieren und damit zur Grundlage der eigenen Politik zu machen.

Dem ehemaligen Außenminister der DDR Otto Winzer wird der Ausspruch unterstellt, bei der Neuen Ostpolitik handele es sich um eine „Aggression auf Filzlatschen“. Ungeachtet dessen, ob die Überlieferung korrekt ist, war diese Einschätzung seitens der DDR nicht ganz falsch. Das westdeutsche Ziel war die Unterminierung der SED-Herrschaft und am Ende die deutsche Einheit. Entsprechend ablehnend stand die DDR der sozialdemokratischen Neuen Ostpolitik zunächst gegenüber. Erst der Wechsel von Ulbricht zu Honecker ermöglichte es schließlich, dass die DDR-Führung sich gegenüber der westdeutschen Entspannungspolitik öffnete.

War die Anerkennung des Status quo die eine Voraussetzung der Entspannungspolitik, so war der atomare Schutzschild der USA die andere Bedingung.

War die Anerkennung des Status quo die eine Voraussetzung der Entspannungspolitik, so war der atomare Schutzschild der USA die andere Bedingung. Erst diese potenzielle Bedrohung, die immensen Kosten der Hochrüstung und die Krisen um Berlin und Kuba 1961/1962 öffneten das Fenster für eine Ära der Diplomatie. Die Ostverträge waren entsprechend eingebettet in die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), deren Abschlussprotokoll am 1. August 1975 unterzeichnet wurde. Und neben den Vertragsabschlüssen der Bundesrepublik mit der UdSSR, Polen, Tschechien und der DDR zwischen 1970 und 1973 fanden intensive Abrüstungsverhandlungen statt. Die SALT-I-Verhandlungen (Strategic Arms Limitation Talks) zwischen der Sowjetunion und den USA führten 1972 zum ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty), in dem die beiden Supermächte auf den Bau neuer Interkontinentalraketen und neuer U-Boot-gestützter Atomwaffen verzichteten.

Die Verflechtung von Entspannung und atomarer Bedrohung war den westdeutschen Akteuren nicht nur bewusst, sondern Voraussetzung ihrer Politik. Willy Brandt und die SPD sicherten die Kontaktaufnahme nach Moskau durch das Bekenntnis zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und zur NATO ab. Es sollten bei den westlichen Verbündeten keine Zweifel aufkommen, auf welcher Seite die Bundesrepublik im Zweifelsfall stünde: Die Bundesrepublik war im Ost-West-Konflikt nicht neutral, Bonn war nicht Wien oder Helsinki. Die deutsche Regierung nutzte dabei allerding gekonnt das Interesse beider Supermächte, die Rüstungsspirale in ökonomisch verträglichere Bahnen zu leiten.

Die deutsche Politik gegenüber Russland versucht derzeit einen – noch unklaren und auch nicht ausgereiften – Mittelweg zu gehen.

Die sozialdemokratischen Entspannungspolitiker wussten um die Interdependenz von Dialog und Drohgebärde. Ihre Überlegungen zielten dabei auf die Rolle, die die Bundesrepublik in diesem Beziehungsgeflecht einnehmen konnte. Da es im Kern um die deutsch-deutschen Beziehungen und um Erleichterungen für die Menschen in der DDR ging, konnte dies nach dem Mauerbau 1961 nur der Dialog sein. Klar war, dass ein und derselbe Akteur nicht beide Rollen einnehmen konnte. Man konnte nicht freie Wahlen in der DDR zur Bedingung für Gespräche machen, sondern musste zunächst den Status quo anerkennen. Man konnte auch nicht den Dialog suchen und zugleich atomar drohen. Nicht ohne Grund war die westdeutsche Unterzeichnung des „Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen“ aus sowjetischer Sicht eine zentrale Voraussetzung für die Gespräche mit der Bundesrepublik.

Und hier liegen nun auch die Unterschiede zur Gegenwart. Die deutsche Politik gegenüber Russland versucht derzeit einen – noch unklaren und auch nicht ausgereiften – Mittelweg zu gehen. Ökonomisch sollen nicht alle Brücken abgerissen werden, was sich im bislang weitgehenden Festhalten an russischen Erdgas- und Öllieferungen manifestiert. In den Augen der (ost-)europäischen Öffentlichkeit steht Deutschland so als Bremse dar. Zugleich beteiligt sich Deutschland am Wirtschaftsembargo gegenüber Russland und an Waffenlieferungen an die Ukraine. Auch wenn beides in den Augen Osteuropas in unzureichendem Maß geschieht, handelt es sich doch um die weitreichendsten Sanktionen, die es je zwischen nicht gegeneinander kriegführenden Staaten gab – und dies ist für Russland der entscheidende Faktor. Deutschland versucht also in der „Zeitenwende“ beide Rollen zu spielen und kann bislang keine zufriedenstellend ausfüllen. Im Ergebnis ist das Ansehen leicht ramponiert, aber das Ohr Putins hat die deutsche Regierung auch nicht gefunden.

Auch sollte man sich von einer anderen liebgewonnenen Ansicht verabschieden: Nicht jeder Handel führt auch zu Wandel. Erstens: Bei der historischen Ostpolitik handelte sich um die Entwicklung ökonomischer Verflechtung zwischen unterschiedlichen Systemen, deren politisch-ökonomische Grundlagen weltanschaulich aufgeladen waren (Markt versus Plan). Das ist heute anders. Zweitens: Es besteht ein Unterschied zwischen Verflechtung und Abhängigkeit. Was 1970 der Beginn verflochtener Beziehungen war, stellt sich 2022 als hochgradige Abhängigkeit dar.

Was 1970 der Beginn verflochtener Beziehungen war, stellt sich 2022 als hochgradige Abhängigkeit dar.

Der Blick auf die Verflechtung von Dialog und Drohung in der historischen Entspannungspolitik kann zur Auflösung einer Reihe von Selbstzweifeln und politischen Unklarheiten beitragen. Denn beide – Diplomatie und Abschreckung – werden angesichts einer atomaren Supermacht mit imperialen Ansprüchen auch zukünftig ihre Funktion haben.

Allerdings wissen wir derzeit nicht, wer die entspannungspolitische Rolle gegenüber dem Aggressor zukünftig ausfüllen wird. Und wir wissen auch noch nicht, mit welchen spezifischen Zielen dies verbunden sein wird. Israel oder die Türkei, die sich als mögliche Vermittler ins Spiel bringen, werden andere Ziele verfolgen als die Westdeutschen in den 1960er Jahren.

Die Frage, welche Rolle Deutschland zukünftig einnimmt, darf dabei nicht vor dem Hintergrund geostrategischer Überlegungen beantwortet werden. Dies würde bedeuten, politische Unterschiede zwischen den Parteien in Deutschland zu verwischen. Es würde zur Negierung aller Interessensunterschiede führen. Für die Sozialdemokratie müssen zuvorderst ihre Grundwerte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität im Zentrum stehen. Die Entspannungspolitik ist also nicht am Ende, nur eine Reihe von Koordinaten haben sich geändert. Klar ist aber auch, dass zunächst die Waffen schweigen müssen.

Dr. Stefan Müller leitet das Referat Public History im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

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