Der Westen: unkaputtbar
Christoph Zöpel über Heinrich August Winklers Analyse der aktuellen Krise in Europa und Amerika.
Das Verhältnis der USA zu Europa wie die Handlungsfähigkeit der EU stehen derzeit unstreitig vor Herausforderungen, was publizistisch breiten Niederschlag findet. Dabei können die Suche nach den Gründen und das Aufzeigen von Lösungen von zwei unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Sichtweisen bestimmt sein. Die eine ist die der Krise, des Zusammenbrechens auf Dauer angelegten politischen Zusammenwirkens mit entsprechender Institutionalisierung. Die andere ist die kontinuierlicher historischer Entwicklungen, bestimmt durch wechselnde handlungsrelevante Akteure mit veränderlichen Interessen; vor allem Entwicklungen in durch Wahlen geprägten Systemen sprächen für diese Sichtweise. Die Titelfrage von Winklers Buch, „Zerbricht der Westen?“ signalisiert allerdings die Sichtweise der Krise, Kritik daran ist aus der Sichtweise kontinuierlicher historischer Entwicklungen angebracht.
Der Westen ist das große Thema Winklers. In „Deutschlands langem Weg nach Westen“, aus dem Jahr 2000, dann in der „Geschichte des Westens“, vier Bände 2009 bis 2015, hat er ihn erfasst als das Projekt „der Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie“. Und er postuliert, dass „die Wühlarbeit“ dieses Projekts, „noch lange nicht zu Ende“ ist – so der letzte Satz der „Geschichte des Westens“.
In „Zerbricht der Westen?“ fasst Winkler die Entstehung und die Geschichte des Westens zusammen. Konstitutiv sind die Gewaltenteilungen zwischen göttlichen und irdischen Gesetzen im Wormser Konkordat von 1122, sowie zwischen fürstlicher und ständischer Gewalt in der englischen Magna Charta Libertatum von 1215. Dass die erste Gewaltenteilung im Einflussbereich der oströmischen Kirche nicht stattfand, begründet die nicht-westliche Entwicklung Ost- und Südosteuropas, für Winkler die europäische „Urdifferenz“. Die mittelalterlichen Gewaltenteilungen führten 1776 zur „Declaration of Rights“ in den USA und 1789 zur „Déclaration des Droits de l´homme“ in Frankreich. England hatte schon 1688 einen König gestürzt, was zu den Anfängen eines repräsentativen politischen Systems führte. So bildeten England, die USA und Frankreich gemeinsam den „Ur-Westen“. Deutschlands Ankunft im Westen erfolgte erst mit der Wiedervereinigung 1989/90. Diese Ankunft war gleichzeitig die Neubildung der deutschen Nation – integriert in die EU. An seiner historisch-geopolitischen Abgrenzung des Westens wie am dort im 19. Jahrhundert entstandenen Nationalstaat, den nach dem Zweiten Weltkrieg die EU überwölbt, aber nicht aufhebt, ist Winkler durchgehend orientiert. Folglich postuliert er ein Europa der Nationalstaaten gegen ein supranationales. Die Währungsunion ohne politische Union ist entsprechend eine Ursache der „gegenwärtigen Krise in Europa“.
Die Verbindung der beiden „gegenwärtigen Krisen“ des Westens, Verhältnis der USA zu Europa und der Handlungsfähigkeit der EU, ergibt sich für Winkler, den österreichischen Historiker Gerald Stourzh zitierend, aus der These: „Europa ist nicht allein der Westen. Der Westen geht über Europa hinaus. Aber Europa geht auch über den Westen hinaus.“ Aus letzterem folgert Winkler, dass Europa im geographischen Sinne nie eine Wertegemeinschaft gebildet hat.
Fragwürdig ist insbesondere, ob die „Urdifferenz“ zwischen Ost- und Westeuropa die Differenzen zwischen Mitgliedsstaaten der EU im 21. Jahrhundert erklärt.
Die Krise sucht Winkler, fast chronologisch der täglichen Nachrichtenlektüre folgend, in Ereignissen der Jahre 2016/17. Das aber ist eigentlich die Sichtweise kontinuierlicher historischer Entwicklungen, mit wechselnden Protagonisten, bestimmt durch Wahlergebnisse ebenso wie durch ja korrigierbare Fehlentscheidungen. Aber dieses Vorgehen verbindet Winkler mit „krisen“relevanten Wertungen, vor allem wenn sie der europäischen „Urdifferenz“ zwischen Ost- und Westeuropa entsprechen. Das führt zu fragwürdigen Argumenten, prononciert durch eine offenkundige Antipathie Winklers gegen Positionen linker Politik. Fragwürdig ist insbesondere, ob die „Urdifferenz“ zwischen Ost- und Westeuropa die Differenzen zwischen Mitgliedsstaaten der EU im 21. Jahrhundert erklärt.
Mit Blick auf die EU-Erweiterung seit 2004 unterscheidet Winkler zwischen den neun „westchristlichen“ neuen Mitgliedsstaaten und den beiden „ostchristlichen“ Bulgarien und Rumänien, denen er eine Orientierung an Russland zuspricht. Diese Orientierung Bulgariens, wie anderer slawischer Staaten, hat historisch mit der Befreiung von islamisch-osmanischer Herrschaft durch Russland Ende des 19. Jahrhunderts zu tun. Ihre gegenwärtige Relevanz versucht Winkler zu belegen, zumal wenn postkommunistische linke Parteien zu den Akteuren gehören. In Bulgarien gibt es so den angeblich russophilen Präsident Rumen Radem, Absolvent einer US-amerikanischen Militärakademie, der dafür aber bisher keinen Beleg geliefert hat. Rumänien, Land mit einer lateinischen Sprache, war schon zu Zeiten Ceaușescus gegenüber der Sowjetunion distanziert; den jetzt regierenden Postkommunisten Russlandnähe zu unterstellen, ist kontrafaktisch. Weder in Bulgarien noch in Rumänien haben sich antieuropäische populistische Parteien bisher durchsetzen können – anders als in den „westchristlichen“ Staaten Polen und Ungarn.
Nicht aufgeworfen wird die Frage, ob eher die konservativ-liberalen oder die linksdemokratischen Parteien in Osteuropa – wie in der EU insgesamt – für die Wahlergebnisse der Populisten verantwortlich sind. In der Slowakei ist das für Winkler eindeutig, es liegt am, nur angeblich, linken Ministerpräsidenten Robert Fico, mit seiner zuwanderungsablehnenden Rhetorik, die sich allerdings inzwischen kaum von der konservativer Parteien in Westeuropa unterscheidet. Vielleicht waren die 27 Prozent Stimmen für Ficos SMER das positive Ergebnis dieser Rhetorik, das dann eine europafreundliche Regierung unter Beteiligung einer ungarischen Partei möglich machte.
Bei der Darstellung der Differenzen zwischen den west- und osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten vernachlässigt Winkler weitgehend die wirtschaftlichen Unterschiede.
In Bulgarien erklärt die osmanische Vergangenheit auch, dass eine verbliebene türkische Minderheit die politische Entwicklung nach 1989 mitbeeinflusst hat. Übergreifend führt das zu einer im Kalten Krieg entstandenen Widersprüchlichkeit des Westens, die Winkler aktuell wegen Erdogan problematisiert. Schon 1963 erklärte die EG, Vorläufer der EU, die Möglichkeit einer Mitgliedschaft der Türkei. Eines der Motive war die Zugehörigkeit der Türkei zur NATO, offenkundig ohne, dass sie die normativen Ideen des Westens akzeptiert hatte. Die NATO aber bedeutet bis heute militärische Abhängigkeit Europas von den USA. Der aktuell eskalierende Konflikt des Westens mit Putins Russland basiert so auf der kontinuierlichen Osterweiterung der NATO. Für Winkler ist sie wohl positives Ergebnis westlicher „Wühlarbeit“, so betrachtet eine interessante Wortwahl.
Die in der NATO institutionalisierte westliche Verbundenheit hat nun Präsident Trump in Frage gestellt, indem er die US-amerikanische Nation auch über westliche Gemeinsamkeiten stellt. Für Winkler ist das die „gegenwärtige Krise in Amerika“.
Bei der Darstellung der Differenzen zwischen den west- und osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten vernachlässigt Winkler weitgehend die wirtschaftlichen Unterschiede. Sie könnten aber mehr erklären als die „Urdifferenz“. Diese Unterschiede, wie die Globalisierung, wie die Zuwanderung nach Europa und in die USA, sind Folgen der technologisch-ökonomischen Überlegenheit der westlichen Staaten. Liegt das Scheitern vielleicht daran, dass die Verfügung darüber in privatwirtschaftlicher Macht einmalig großer Technologiekonzerne Menschenrechte und die Herrschaft des Rechts verletzt? Das wäre dann eine „Krise des Westens“.
Winkler kommt zu dem Schluss, dass der Westen trotz gegenwärtiger Zerreißproben nicht zerbricht. Die Trump-Krise der USA soll durch die Checks and Balances der Verfassung überwunden werden, die EU-Krise durch das Festhalten an repräsentativer Demokratie im nationalstaatlichen Rahmen und Eindämmung des Populismus.
Es bleibt aber offen, ob nach Trump der Westen wieder der wird, als den Winkler ihn versteht.
Es bleibt aber offen, ob nach Trump der Westen wieder der wird, als den Winkler ihn versteht. Die europäischen Staaten sind zu stärkerer internationaler Handlungsfähigkeit verpflichtet. Dabei hilft ihnen die europäische Urdifferenz nicht. Bei historischen Betrachtungen sind ihre jahrhundertelangen Beziehungen zu Russland und zur Türkei einzubeziehen. Zeitgeschichtlich ist das Nachwirken kommunistischer und zuvor faschistischer Herrschaft wirksamer als erwartet. So ist die Furcht vor muslimischer Bedrohung als Folge von Migration in osteuropäischen Staaten – einschließlich der ostdeutschen Länder – ausgeprägter als in westeuropäischen. Dennoch war in den „westlichen Urstaaten“ England und Frankreich populistischer Nationalismus wahlrelevanter als in Deutschland, das erst 1990 im Westen ankam. Damit wäre zu fragen, wieviel generationenübergreifendes Lernen erforderlich ist für Menschen, die in totalitärer Herrschaft aufgewachsen sind, zu zivilem Widerstand bereit wie es sich 1989/90 gezeigt hat, nun aber Unterschiede im persönlichen Wohlstand zwischen Nordwest- und Osteuropa erfahren.
Unstreitig sind die „unveräußerlichen Menschrechte“ eine „westliche Errungenschaft“, die „allgemeingültig“ geworden ist. Globalpolitisch und auch globalgeschichtlich ist es im 21. Jahrhundert zielführender, das nicht als Ergebnis westlicher „Wühlarbeit“ auszugeben – was dann auch als Imperialismus verstanden werden kann angesichts der Widersprüchlichkeit zwischen normativem Anspruch und Praxis des Westens – sondern als universale Werte, die alle Staaten der Welt mit der Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in den UN normiert haben. Die internationale Aufgabe Europas besteht darin, das zu vermitteln – auch erkennend, dass seine kleinen Nationalstaaten, selbst England, Frankreich und Deutschland, gegenüber den Nationalstaaten China und Indien nur marginale Bedeutung haben.
Prof. Dr. Christoph Zöpel war Minister für Stadtentwicklung in Nordrhein-Westfalen und Staatsminister im Auswärtigen Amt. Zurzeit ist er Professor für Raumentwicklung an der German Jordanian University in Amman sowie an der TU Dortmund.