Laure Calamy © Haut et Court

Der Kampf beginnt noch vor dem Morgengrauen und zieht sich bis spät in die Nacht hinein. Die Gegner der Mittvierzigerin Julie Roy (Laure Calamy) sind mannigfaltig: sich schließende Bus- und Zugtüren, vorbeifahrende Mitfahrgelegenheiten, versagende Kreditkarten. Aber auch Telefonate und gestresste Gegenüber. Der Arbeitsalltag als ein einziger Hindernisparcours.

Julie Roy lebt mit ihren beiden kleinen Kindern in einem Vorort von Paris. Seit der Trennung von ihrem Mann ist sie alleinerziehend. Ihr Arbeitsplatz aber, ein Luxushotel, liegt mitten in der Metropole. Das bedingt lange An- und Rückfahrten. Die Kinder werden noch im Dunkeln bei einer alten Nachbarin untergebracht, die mault, weil ihr die Kleinen zu anstrengend werden und die Mutter es nie schafft, sie zur angekündigten Uhrzeit wieder abzuholen.

Laure Calamy © Haut et Court
Laure Calamy © Haut et Court

Im Hotel leitet Julie das Team der Zimmermädchen. Sie ist kompetent und hat den nötigen Überblick, um durch Improvisationen auch kurzfristig den Betrieb zu gewährleisten. Doch die Arbeit ist unbefriedigend, und das Verhältnis zu ihrer Chefin gereizt. Die ausgebildete Marktforscherin Julie strebt deshalb eine neue Stelle an, ohne ihren aktuellen Verdienst gefährden zu wollen. Während die Bank sie mit Anrufen über ihren Kontostand traktiert, telefoniert Julie erfolglos ihrem Ex-Mann hinterher. Der ist mit den Alimenten im Rückstand und geht nie ans Handy. Auch ihre eigenen Träume hat Julie noch nicht wegrationalisiert, für die sie sogar die Gefährdung ihrer bestehenden Arbeitsstelle riskiert. Dabei wird es unumgänglich, Kolleginnen im Hotel um Deckung zu bitten, wenn sie für ein Vorstellungsgespräch frei braucht; dass diese ihrerseits ihre Jobs riskieren, nimmt Julie in Kauf. Wenn sie ihre Ziele nicht mit Charme und Freundlichkeit erreicht, erlebt man sie auch mal flehend, aufgewühlt oder drohend, ohne dass die in jeder Szene im Zentrum stehende Julie darüber Sympathiepunkte verspielen würde. Sie kann sich schlicht der fatalen Logik des kapitalistischen Systems nicht entziehen, für die Besserung des eigenen Lebens andere zur Seite drängen zu müssen. Als Sozialdrama ist „Julie – Eine Frau gibt nicht auf“ auch deshalb von außergewöhnlicher Dichte, weil sich der Film nicht in Lehrbuchphrasen, sondern allein durch seine formale Dringlichkeit entfaltet. An Julies Beispiel wird das halsbrecherische Tempo der modernen Arbeitswelt eindringlich vorgeführt: Fehler fallen sofort auf die Urheberin zurück, und Hilfsstrukturen erweisen sich als höchst brüchig. Dabei vergisst der Film auch nicht die Herausforderungen als alleinerziehende Mutter, die Julie neben ihrer Arbeitswelt weitere Scharmützel bescheren.

 

Mit seinem zweiten Langfilm kann der frankokanadische (aber inzwischen in Frankreich lebende) Regisseur Éric Gravel auf ganzer Linie überzeugen. Mit seinem Film gibt er genau denjenigen Menschen eine Bühne, die sonst unsichtbar bleiben, aber unsere Gesellschaft am Laufen halten. “Julie-eine Frau gibt nicht auf” ist sozialer Realismus durch und durch, doch Gravel fügt dem ganzen noch eine Thriller-Note hinzu, die dafür sorgt, dass man ständig gebannt die Wege der Protagonistin verfolgt und mit ihr mitfiebert. Das gelingt ihm so unfassbar gut, dass man als Zuschauer ständig in Angst ist, Julie würde jeden Moment zusammenbrechen. Ihre Anspannung ist in jeder Sekunde spürbar.

Das Besondere an “Julie-eine Frau gibt nicht auf” ist zudem, dass Éric Gravel sich nicht ein einziges Mal dazu verleiten lässt, den einfachen, erwartbaren Weg einzuschlagen. Er mutet seiner Hauptdarstellerin viel zu und Laure Calamy setzt das in ihrer Spielweise brillant um. Kein Wunder, dass Gravel beim letztjährigen Filmfestival von Venedig in der „Orizzonti“-Sektion als bester Regisseur und Laure Calamy als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde.

 

Originaltitel: À Plein Temps / Full Time (Frankreich 2022)

Länge: 88 Minuten

Genre: Drama

Regie: Éric Gravel

Drehbuch: Éric Gravel

Darsteller: Laure Calamy, Anne Suarez, Geneviève Mnich,Nolan Arizmendi, Sasha Lemaitre Cremaschi, Cyril Gueï

Verleih: Fugu Filmverleih O’Grady und Suhren GbR

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