Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

Die „Zwanziger“! Die viel zitierten, beschworenen, besungenen, verfluchten „Zwanziger“! Wofür stand die Dekade zwischen 1920 und 1930 nicht alles? Symbolhaft, aber auch direkt greif- und erlebbar. Für das Ende von Kriegsangst und –not. Für Freiheit und Aufbruch in eine bis dahin in Deutschland nie gekannte Form von politischer Gestaltung, aber unentrinnbar zugleich der persönlichen Entscheidungs-Verantwortung. Damit freilich auch Verantwortlichkeit für das Scheitern der Demokratie. Für Moderne in Architektur und Musik und ungehemmte Lebensgier. Aber ebenso für Spaltung der Gesellschaft, für Hass, Gewalt, Terror und Mord. Für uferlose Inflation, Arbeitslosigkeit und Armut als Nährböden für die Parolen Hitlers und seiner nationalistischen, braunen Horden. Der Rest ist bekannt. Hitler und die NSDAP kamen 1933, demokratisch gewählt (!), an die Macht. Es folgten die totale Gleichschaltung der Gesellschaft, eine ungeheure militärische Aufrüstung zum Zwecke des Krieges, „Endlösung“ der Juden- und „Zigeuner“-Frage, Krieg gegen praktisch die ganze Welt, bis dahin unvorstellbarer Völkermord, für den der Name „Auschwitz“ steht.

 Seit wenigen Tagen befinden wir uns nun in unseren eigenen „Zwanzigern“. Klar, dass das geradezu einlädt, mit der Erinnerung an die Vergangenheit den Blick auf die Zukunft zu richten. Zumal sich ja tatsächlich auch jetzt gerade wieder Dinge ereignen, die beinahe schablonenhaft auf schlimme Ereignisse vor 100 Jahren zu passen scheinen. Nicht nur irgendwo, sondern hier bei uns in Deutschland. In den „alten“ Zwanzigern waren „Fememorde“ an missliebigen Politikern verübt worden – 1921 traf es den Zentrumsmann Matthias Erzberger, 1922 den liberalen Außenminister Walther Rathenau; der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann überstand durch Glück und Zufall ein Säureattentat. Die Täter stammten sämtlich aus dem rechtsnationalistischen Untergrund. Ihr Kampf galt dem verhassten neuen Staat und dessen Repräsentanten. Und die Justiz tat vieles, um sie zu schützen, denn ihre Taten dienten ja – laut manchem Urteilsspruch – der „nationalen Sache“.

Nein, natürlich wiederholt sich Geschichte nie sozusagen 1 zu 1. Seinerzeit hetzte ein großer Teil der Presse gnadenlos gegen die angeblichen „Erfüllungspolitiker“ und forderte dazu auf, diese „loszuwerden“. Dazu gibt es heute keine Parallele. Zumindest nicht, was die klassischen Medien anbelangt. Aber sonst? Nicht erst in jüngster Zeit, sondern eigentlich schon seit einer Reihe von Jahren, erleben wir doch regelrechte Wiederauferstehungen von Hass- und Hetzreden, von Aufrufen aus der äußersten Linken wie extremen Rechten zu Gewalt und deren Umsetzung, von Aufmärschen grölender Glatzköpfe unter Mitführung nationalsozialistischer Symbole und dem demonstrativen Zeigen des Hitlergrußes. Und Morddrohungen gegen Politiker, Künstler und Journalisten sind praktisch an der Tagesordnung. Nein, selbstverständlich wird solches nicht, wie damals, von staatlicher Seite gebilligt – nicht von Politik, nicht von Polizei oder Justiz. Nicht einmal insgeheim. Aber robust (der alten Regel „Wehret den Anfängen“ folgend) gegen solche Auswüchse vorgegangen wird halt eben auch nicht. Und so mag es nicht verwundern, dass manche Bürger daran zweifeln, ob sich der liberale Rechtsstaat auf Dauer stark genug erweisen wird, die zunehmend offen demonstrierten und immer massiver werdenden Attacken auf sein liberales, demokratisches Wesen abzuwehren.

Was vor hundert Jahren mit Rathenau, Erzberger, Scheidemann und anderen geschah, waren Fememorde. Kühl geplant und zumeist professionell ausgeführt. Von rechten Organisationen aus dem Untergrund, die nicht selten paramilitärischen Freikorps, entsprangen. Dazu gibt es, logisch, wenigstens hierzulande keinen aktuellen Vergleich. Allerdings liegen genügend Beweise für das Existieren von Gruppen und Grüppchen vor, die sich sehr wohl an den „alten Helden“ auszurichten versuchen. War denn, zum Beispiel, die regelrechte Exekution des Kasseler Regierungspräsidenten Walther Lübcke etwas anderes als ein ebenfalls vermutlich lang geplanter Fememord? Sicher, man sollte diese Kräfte nicht stärker reden als sie sind. Aber sie weiterhin nahezu ungestört agieren zu lassen, wäre sicherheits- und gesellschaftspolitisch sträflich leichtsinnig. Und das gilt keineswegs nur für den Osten Deutschlands. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden die nächsten Kommunal- und Landtagswahlen zeigen, dass auch in der „alten“ Bundesrepublik die „politische Mitte“ instabil geworden ist.

„Angst“ – man mag es belächeln, leugnen oder geradezu vor sich hertragen. Tatsache aber ist, dass dieses Wort (oder besser: dieses Gefühl) die Deutschen durch die Zeiten begleitet. Vor 100 Jahren gab es mehr als genügend Gründe, sich zu ängstigen. Totale Geldentwertung, galoppierende Inflation, grassierende, millionenfache Arbeitslosigkeit, politische Instabilität, unübersehbare Kriegsreparationen – kurz, Hoffnungslosigkeit, wohin man schaute. Ganz abgesehen von der gesellschaftlichen Spaltung in (sehr viel) arm und (sehr wenig) ganz reich. Nichts von dem bedroht oder bedrückt uns Gegenwärtige! Im Gegenteil. Die Aufräum- und Aufbauarbeit nach 1945 ist (materiell) getan, teilweise sogar das moralische Verarbeiten der kriminellen NS-Hinterlassenschaft. Der riesige Überfluss im Angebot und Konsum lässt sogar oft genug den Mangel bei den im Schatten Lebenden übersehen. Die Arbeitslosigkeit erreicht selten gekannte Tiefenrekorde, der Reise- und Kaufboom ist ungebrochen.

Und doch beherrschen auch jetzt wieder Sorge und Zukunftsangst die Köpfe der Menschen. Kein Wunder. Schließlich werden viele der schönen Dinge ja auch ganz einfach überlagert von den Bildern, die täglich aus aller Welt über die TV-Schirme flimmern und stündlich bis minütlich (über das Internet transportiert) von den Smartphones und Tablets ausgespuckt werden. Kriege, Hunger, Gewalt und Massenfluchten, die längst den Umfang früherer Völkerwanderungen erreicht haben. Man hätte darauf vorbereitet sein können – ja müssen. Aber wir hatten uns gemütlich eingerichtet in unserem, jetzt bedroht erscheinenden, Wohlstand. Selbst die Massenaufstände der Menschen in der DDR und in ganz Osteuropa mit der daraus erwachsenen Wiedervereinigung und den anderen revolutionären Umbrüchen in Europa haben total überrascht. Und nun, nach dem Zustrom von Flüchtlingen aus Nahost und – zunehmend – auch aus Afrika, wächst die begründete Angst, dass dieses Land (ja sogar der ganze alte Kontinent) diese Last auf Dauer nicht werde bewältigen können.

Das wirklich Bedrückende dabei ist freilich, dass nirgendwo in der reichen Gesellschaft ein ähnliches Zusammenrücken wie in den schweren Zeiten des Nachkriegs zu verspüren ist – ein In-die-Hände-Spucken zum „Wir-schaffen-das“. Auch kein Abstützen auf die in den vergangenen Jahrzehnten unter teils schwierigen Verhältnissen geschaffenen Fundamente eines gesamteuropäischen Hauses. Stattdessen erleben wir das Gegenteil. Nicht nur in Deutschland. Allenthalben zweifeln die Menschen an der Stärke Europas. Großbritannien flieht sogar aus der Gemeinschaft und zieht sich auf sein vermeintliches Insel-Refugium zurück – im fatalen Irrglauben, auf dem sich dramatisch neu aufstellenden Globus mit neuen Weltmächten wieder die alte Empireglory aufpolieren zu können. Zudem ist mit der allgemeinen Erwärmung der Erde sowie der daraus resultierenden Gefahren für den Erdball und seiner Bewohnert ein weiteres Angst-Thema dazu gekommen, dessen Brisanz von den Völkern eigentlich ebenso schon längst hätte begriffen werden können. Vor diesem Hintergrund fragt sich der denkende Mensch wirklich ziemlich ratlos, warum plötzlich ein 17-jähriges Mädchen mit zwei langen Zöpfen aus Schweden so viel Resonanz erfährt – für die einen quasi eine zweite Heilige Johanna von Orleans, für andere hingegen ein veritables Spott- und Hassobjekt.

Hass, Gewalt, zunehmende Verrohung der Sprache mit entsprechender Enthemmung vor allem in den (un)sozialen Netzen mit ihren Möglichkeiten der Anonymisierung, konkrete und obskure Zukunftsängste, dramatisch abnehmende Bindungskraft ehemals verlässlicher Stabilitätsfaktoren wie Kirchen, Parteien, Gewerkschaften oder Vereinen. So präsentiert sich die Werklichkeit. Dies, wiederum, verbunden mit einer teilweise alarmierenden Hinwendung erheblicher Teile der Gesellschaft zu scheinbaren Heilsverkündern, die mit einfachen Parolen und Thesen Klarheit und Sicherheit in einer komplizierten Zeit versprechen. Nein, wahrscheinlich sind tatsächlich die wenigsten der AfD-Wähler wirklich „rechts“ oder gar extrem. Aber wie ist es zu erklären, dass (Beispiel Thüringen) eine Wählerschaft zunächst jahrelang eine Partei (CDU) bis zur absoluten Mehrheit trägt, um dann mit einem Male mit der „Alternative für Deutschland“ (AfD) eine rechtsnationalistische Partei zur zweitstärksten Kraft zu erheben – und damit auch noch Führungspersönlichkeiten um einen Björn Höcke huldigt, der aus seiner Bewunderung für nationalsozialistisches Gedankengut überhaupt kein Hehl macht?

 Ohne Zweifel ist dem Historiker Martin Sabrow, Leiter des Potsdamer Leibnitz-Zentrums für zeithistorische Forschung, zuzustimmen, dass „schiere Vergleiche“ der heutigen „Zwanziger“ mit denen vor 100 Jahren nicht ratsam seien. Der vielleicht wichtigste Unterschied ist, dass wir – im Gegensatz zu damals – auf eine in mittlerweile sieben Jahrzehnten gewachsene demokratische Erfahrung bauen können. Das ist, zugegeben, keine sichere Burg in unsicheren Zeiten. Wahrscheinlich, indessen, werden demokratische Tugenden in Zukunft sogar noch nötiger sein denn je – wie etwa gesitteter Umgang miteinander, gegenseitiges Zuhören auch (und gerade) beim notwendigen Streit um die richtigen Wege und (allem voran) die Fähigkeit zum ausgleichenden Kompromiss zwischen den Interessen. Dies vor allem, wenn den Menschen bei uns und um uns herum auch bewusst wird, dass die einfache und damit bequeme Zeit stabiler Mehrheiten wohl vorbei ist.

Trotzdem ein Prosit auf die „Zwanziger“. Es möge nützen.

Kommentare und Bemerkungen bite an Gisbert.kuhn@gmx.net   

 

       

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