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Autor Gisbert Kuhn

Der gute alte Bücherschrank. Ein Griff hinein fördert so manchen intelligenten Gedanken zutage, den ein kluger Mensch irgendwann zuvor einmal zu Papier gebracht und damit der Nachwelt hinterlassen hat. Zum Beispiel der geniale Satiriker, Ironiker, oft an der menschlichen Ignoranz verzweifelnde Erich Kästner und sein wunderbares Gedicht über die „Entwicklung der Menschheit“. Daraus ein Auszug:
„Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,/behaart und mit böser Visage./Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt/und die Welt asphaltiert und aufgestockt/ bis zur dreißigsten Etage.
Da saßen sie nun, den Flöhen entflohen,/in zentralgeheizten Räumen./Da sitzen sie nun am Telefon./Und es herrscht noch genau derselbe Ton/wie seinerzeit auf den Bäumen.
Sie hören weit. Sie sehen fern./Sie sind mit dem Weltall in Fühlung./Sie putzen die Zähne. Sie atmen modern./Die Erde ist ein gebildeter Stern/mit sehr viel Wasserspülung.
….
So haben sie mit dem Kopf und dem Mund/den Fortschritt der Menschheit geschaffen./Doch davon mal abgesehen und/bei Lichte betrachtet sind sie im Grund/noch immer die alten Affen.

Der aufrechte Gang

Na ja, da hat der Kästner den Evolutionsverlauf zeitlich und entwicklungsbiogisch wohl um einiges eingedampft. Denn was sich „seinerzeit“ von den Bäumen locken ließ, war ja keineswegs schon der „homo sapiens“. Einige Millionen Jahre brauchte er schon, um (vor allem) den aufrechten Gang zu lernen – jene Fortbewegungsweise, die den Menschen unter allen „Primaten“ in erster Linie kennzeichnet. Das hat ihm, ohne Zweifel, eine Menge Vorteile eingebracht. Eine bessere Rundsicht, zum Beispiel. Oder die Minimierung der Wasserverluste durch Verdunstung. Nicht zuletzt auch die Möglichkeit, seine Hände in vielfältiger Weise einzusetzen.
Nun kommt gewiss der Einwand, bei der Aufzählung fehle doch das eigentliche, das wirkliche Unterscheidungsmerkmal des Menschen von seinen behaarten und sich noch von Baum zu Baum schwingenden „Vorfahren“ – nämlich das Denkvermögen mit der einzigartigen Fähigkeit, selbständig zu denken, rational zu entscheiden, gut von böse zu trennen, Vernünftiges zu tun oder zu lassen, Geniales zu schaffen oder auch zu zerstören, usw., usw., usw. … Der Einwand ist, im Prinzip, richtig. Aber eben auch nur im Prinzip. Denn es bedarf nicht einmal des Blicks auf die unseligen Kriege und Konflikte auf der Erde mit dem unsäglichen Leid für die Opfer, um an dem „Geschenk Vernunft“ zu zweifeln. Es reicht eigentlich schon ein relativ kurzer Gang mit offenen Augen und Ohren durch eine x-beliebige Ansiedlung.

Mit gebeugtem Rücken

Das Ergebnis ist deprimierend, ja, im Gedanken an die Kinder- und Enkelgenerationen geradezu erschreckend. Denn das Resultat der Beobachtungen ist zumindest die Frage: Sind wir dabei, uns mit Tempo wieder zurück zu entwickeln zu unserem Ursprung? Und zwar sowohl körperlich als auch sprachlich? Machen Sie doch selbst einmal den Test. Ihnen werden ungezählte, vor allem junge, Menschen auffallen, die nicht nur mit gesenkten Köpfen, sondern auch mit gebeugten Rücken durch die Gegend laufen. In den Händen kleine Geräte mit der Bezeichnung Smartphone, auf die pausenlos irgendwelche Texte eingetippt werden. Die Ohren sind verstopft mit unterschiedlich großen Lautsprechern (neudeutsch: headsets), die nahezu jedes Außengeräusch übertönen.
Man muss die Fantasie gar nicht überstrapazieren, um sich auszumalen, dass sich demnächst – um ein Unglück zu verhindern – bestimmte, an sich traditionell liebgewonnene, Hilfsangebote umkehren. Also: Nicht ein junger Mensch hilft einer alten Person an einer Ampel über die Straße, sondern eine betagte Frau bzw. ein rüstiger Herr mit grauem Haar nimmt einen heranwachsenden Smartphone-Tipper an die Hand: „Kommen Sie, ich bringe Sie sicher hinüber. Vorsicht, Straßenbahnschienen. Jetzt Achtung, Bordstein…“. Noch sind wir bei der Generation „Kopf unten, Rücken krumm, dem Erdboden scheinbar entgegen strebend“. Was, wenn die Entwicklung so weiter geht? Zurück zu allen Vieren?

Lol, braduhi, fanta, bidunowa…

Und dann die Verbildung der deutschen Sprache! Sprache, das sollte an sich Allgemeinwissen sein – ist der wichtigste Kulturträger eines Volkes. Sprache, heißt es, sei die Kleidung der Gedanken. Eine deutliche Sprache sprechen. Jemandem bleibt die Sprache weg. Etwas zur Sprache bringen. Das sind doch aussagekräftige Formeln! Und dann gab es einmal den Martin Luther. Der hat nicht nur die Bibel übersetzt, sondern das Deutsche darüber hinaus mit seiner Sprachgewalt um so herrlich farbige Begriffe bereichert wie „Tod und Teufel“, „Kopf und Kragen“, „Haus und Hof“, „kurz und klein“ und hat die „Pfaffen“ gelehrt, „dem Volk aufs Maul zu schauen, aber nicht nach dem Mund zu reden“. Das wäre gerade heute eine passende Anleitung für so manchen Politiker…
Es ist schon schlimm genug, wenn man ins Internet schaut (und dabei in Sonderheit facebook anklickt), um die grauenvollsten Schreibfehler und Beleidigungen zu finden. Doch was sind die im Vergleich zu der Schwemme von Abkürzungen in der Unterhaltung über SMS, Twitter, WhatsApp und wie all die digitalen Kommunikationsdinger heißen. Gemessen daran nehmen sich die Comic-Idiome mitunter wie Teile der Hochsprache aus. „Ich liebe dich“, das an sich doch schönste aller zwischenmenschlichen Bekenntnisse, wird da zum kalten, nichts sagenden „ild“. Das soll romatische Gefühle wecken? Eine Trennung, schmerzhaft und meist Mut erfordernd, wird mit einem gesimsten „leia“ erledigt – „Liebling, es ist aus“. Da erscheint das geschäftige „fanta“ beinahe schon normal – „fahre noch tanken“. Noch mehr solcher Kultur-Sträuße? Bitte schön: „braduhi“ – brauchst du Hilfe? Oder: „bidunowa“ – bist du noch wach? Bei so viel Kreativität ist es denn auch gleichgültig, ob ein (wieder einmal) aus dem Englischen abgekupfertes Akronym (so heißen die Abkürzungen) falsch geschrieben wird. Beispielsweise beim Dauerläufer „lol“, der angeblich für „loughing out loud“ stehen soll – wo doch das englische Adverb in diesem Fall nur als „loudly“ durchgehen dürfte.
Genug lamentiert über den Verfall von Kultur und die (scheinbar unaufhaltsame) Zurückentwicklung des menschlichen Bewegungsapparates? Zum Glück gibt es da ja noch den Erich Kästner:
Und immer wieder schickt Ihr mir Briefe,/in denen Ihr, dick unterstrichen, schreibt:/Wo, Herr Kästner, bleibt das Positive?/Ja, weiß der Teufel, wo es bleibt.

Gisbert Kuhn

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