Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

Die brüske Weigerung des ukrainischen Präsidenten Wolodymir Zelensky, das deutsche Staatsoberhaupt Frank-Walter Steinmeier zu empfangen, findet (vor allem) im „Netz“ zahlreiche Äußerungen von Verständnis, ja sogar der Zustimmung. Tatsächlich gibt es genügend Gründe, die frühere Berliner Russland-Politik als viel zu liebedienerisch, geradezu naiv zu kritisieren. Und, ohne jeden Zweifel, ist die zaudernde Haltung der Ampel-Koalition – nicht zuletzt die von Kanzler Olaf Scholz persönlich – in der Frage von Waffenlieferungen an die um ihre Existenz ringende Ukraine und weiterer Sanktionen gegenüber Moskau zumindest irritierend. Da muss man wirklich schon mal fünfe gerade sein lassen, wenn sich jemand, wie Zelensky, einmal im Ton vergreift. Wenn er um Hilfe fleht, weil im russischen Bomben- und Granatenhagel sein und seiner Nation Leben stündlich bedroht sind.

Trotzdem: Zelensky mochte bei seiner Trotzkopf-Reaktion seinen Frust über die Person Steinmeier abgeladen haben – sie ging, in Tat und Wahrheit, indessen weit darüber hinaus. Steinmeier ist immerhin Bundespräsident, also erster Repräsentant Deutschlands. Und damit trifft Zelenskys strafende Geste im Prinzip uns alle. Ja, es stimmt, dass Deutschland (und zwar keineswegs nur die inzwischen auf dem steinigen Boden der machtpolitischen Realitäten angekommene „Ampel“) sich schwer damit tat (und noch immer tut), der von Putin-Russland brutal überfallenen Ukraine Panzer und anderes weitreichendes und durchschlagendes Gerät zu liefern. Aber Deutschland ist gleichzeitig, ganz unabhängig davon, der Staat, der insgesamt mit Abstand die größte Unterstützung leistet. Da ist die eindrucksvolle, staatliche und private, Hilfe gegenüber dem Heer an Kriegsflüchtlingen noch gar nicht eingerechnet. Es ist mithin zumindest nicht sonderlich intelligent, nach der Hand zu schlagen, von der man sich nicht nur Beistand erhofft, sondern solchen Tag für Tag einfordert.

Und dazu haben Zelensky und die Ukrainer ja auch jedes Recht der Welt. Selbst wenn es mehr als 1000 Kilometer vom direkten Kriegsgeschehen entfernt noch immer Viele nicht begreifen (wollen?) – in Kiew, Mariupol oder Odessa, wird tatsächlich nicht allein ein Land gegen einen brutalen Aggressor verteidigt. Sondern verteidigt wird zugleich das, was sich dieser Kontinent über lange Zeit hart erarbeitet und selbst mit hohem Blutzoll bezahlt hat. Es sind die immer wieder beschworenen „Werte“: Demokratie, Gedanken- und Meinungsfreiheit, Gewaltverzicht, Einhaltung vereinbarter Regeln, Toleranz, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit. Wie sollte ein menschliches Zusammenleben denn funktionieren, wenn Personen oder Staaten sozusagen locker vom Hocker erklärten, diese oder jene Vereinbarung gelte für sie nicht mehr, weil sie dem eigenen Machtstreben entgegenstüden?

Das ist irreales, theoretisches Geplauder? Wie erklärt man sich dann das Ergebnis einer unlängst hierzulande erfolgten Umfrage: 31 Prozent der Deutschen – mithin ein Drittel der Gesellschaft – meinen allen Ernstes, sie lebten in einer „Scheindemokratie“. Glauben deshalb Teile davon, sich das Recht zum Umsturz herausnehmen zu dürfen? So wie jene „Querdenker“, die – zum Glück – aktuell festgenommen wurden beim Versuch, Waffen zu kaufen? Welche Art Demokratie mag denen wohl vorschweben? Eigentlich sollte schon der Blick um uns herum ausreichen, um – trotz aller Fehlentwicklungen – die Vorzüge unseres Systems schätzen zu lernen. Im Übrigen – was heißt denn „Fehlentwicklungen“? Es sind zumeist doch die Verhaltensweisen von Menschen, denen man wahrscheinlich in der Kindheit ganz einfach nicht das altväterliche, aber wirksame „so etwas tut man“ und „so etwas tut man nicht“ beigebracht hat. Möglicherweise, weil die Eltern das selber schon nicht mehr gelehrt bekamen. Vielleicht aber auch, weil in der Gesellschaft die Bedeutung des „Ich“ immer größer wurde und so die Verantwortung für das „Wir“ (also für die Gemeinschaft) immer stärker überdeckte.

 Aber liegt das am „System“? Oder vor allem an den Personen, die es sich zunutze machen? Nehmen wir als Beispiele die jüngsten beiden Rücktritte von Ministerinnen in Düsseldorf und Berlin. Beide im Zusammenhang mit dem verheerenden Unwetter und dessen Folgen an der Ahr und in anderen Teilen von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen im Sommer vorigen Jahres. Sowohl für die nordrhein-westfälische Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) als auch deren damalige rheinland-pfälzische Kollegin, zuletzt Bundesfamilienministerin, Anne Spiegel (Grüne) waren seinerzeit Geburtstagsfeier auf Mallorca bzw. vierwöchiger Familienurlaub in Frankreich wichtiger als das Schicksal der verzweifelten Menschen. Später kamen dann auch noch Lügen und Ausreden dazu. Und der (letztendliche) Rücktritt erfolgte keineswegs freiwillig, sondern war erzwungen durch die öffentliche Empörung. Dennoch, und noch einmal: Es lag nicht am „System“, sondern an persönlichem Fehlverhalten. Im Gegenteil: Das „System“ (also „die Demokratie“) haben die Aufdeckung und Konsequenz doch erst ermöglicht!

Andererseits, und auch wenn man Verallgemeinerungen möglichst vermeiden sollte: Es gibt schon so etwas wie einen Nationalcharakter. Nicht bloß in Deutschland, auch anderswo. Doch zum deutschen Wesen gehört offensichtlich die Bereitschaft, sich bei außergewöhnlichen Vorgängen ziemlich schnell in Panik zu versetzen. In früheren Zeiten war das erkennbar bei den Massen-Demos gegen die so genannte NATO-Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen oder gegen eine „Volkszählung“, welche lediglich die Erkundung des damaligen Wohnzustands zum Ziel hatte. Heute treten andere Angstzustände auf: Erst Corona, jetzt der Krieg in der Ukraine. Und es wird gehamstert, was das Zeug hält, obwohl es kaum Versorgungsschwierigkeiten gibt. Gleichzeitig aber wird der oberste deutsche Katastrophenschützer, keineswegs nur von den Medien, mit Häme überschüttet, wenn er den Ratschlag gibt, es wäre durchaus angebracht, wenn jede Familie sich mit einem kleinen Notvorrat versorgen würde.

Seltsames Land, seltsames Volk. Da ist einmal der Hang zu Angst und Weltschmerz. Und da ist aber zur gleichen Zeit eine hohe Bereitschaft zur Hilfe. Die Aufrufe im Fernsehen und Radio, in den Zeitungen und von Seiten caritativer Vereinigungen nach Ukraine-Hilfe haben unglaublich hohe Beträge erbracht. Das war auch der Fall, als es um die Unterstützung der von der Flut Geschädigten ging. Ein Heer von Freiwilligen und Ehrenamtlichen kümmert sich gegenwärtig praktisch Tag und Nacht um den Zustrom von Kriegsflüchtlingen; ohne sie könnten die Herausforderungen überhaupt nicht bewältigt werden. Man kann nur hoffen, dass diese Bereitschaft zum Helfen noch lange anhalten möge.

Diese Einstellung der Menschen wiederum zählt doch viel mehr als die Entgleisung des ukrainischen Präsidenten gegenüber Steinmeier, und sie zählt auch mehr als die mitunter grenzwertigen Kritiken und Forderungen des ukrainischen Botschafters in Berlin. Darüber wird man sich vielleicht einmal später austauschen können. Diplomatisch, sozusagen. Aber zunächst gilt es, Putins Macht- und Expansionsdrang zu stoppen. Auch mit schweren Waffen aus dem Westen. Selbst wenn diese aus Deutschland kämen.

 

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

 

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