„Schindlers Liste“ und der Appell zur Menschlichkeit

Von Werner Schneider

Als es Steven Spielbergs zu Recht preisgekröntes Werk Schindlers Liste von 1994 an auch auf VHS-Kassetten gab, habe ich als Lehrer am Rhein-Sieg-Gymnasium in Sankt Augustin mit den Schülerinnen und Schülern meiner Leistungskurse im Fach Englisch vierwöchige Unterrichtsreihen über diesen Film erarbeitet. Diese analytischen Reihen wurden von den Jugendlichen mit großem Interesse und offen geäußerter Dankbarkeit angenommen. In mehrtägigen Fortbildungsseminaren für Lehrerinnen und Lehrer habe ich diese Unterrichtsreihen vorgestellt.

Auf diesen Grundlagen habe ich über Spielbergs Film im „biblischen“ Alter von 60 Jahren eine Doktorarbeit geschrieben, die im August 2000 in der der F.A.Z. unter dem Titel rezensiert worden „So macht Schule Spaß und Ernst“. Als ich später das in Deutschland immer mehr nachlassende Interesse an Oskar Schindler und an Spielbergs Film Schindlers Liste bemerkte, habe ich 2016 das Buch Oskar SCHINDLER  Steven SPIELBERG  Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt geschrieben. Es wurde mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung im Bernstein-Verlag veröffentlicht.

Bereitwillig den Lügen geglaubt

Unsere Vorfahren haben sich mehrheitlich, zum nicht geringen Teil sogar bereitwillig, von den Versprechungen und Lügen der Nazis täuschen und verführen lassen. Für die jüdischen Mitbürger wiederum war es damals nicht vorstellbar, welche brutalen und mörderischen Konsequenzen aus diesen Täuschungen und Lügen folgen würden. Der jüdische Schriftsteller und Zeitzeuge Simon Wiesenthal sagte hierzu:  

„Wir Juden konnten uns nicht vorstellen, dass das Volk der Dichter und Denker, das Volk von Goethe und Schiller, von Bach und Beethoven zu solcher Unmenschlichkeit fähig sein könnte.“

Was bedeutet das? Heute müssen wir alle auf der Hut sein, dass wir nicht wieder von den Versprechungen der Neo-Nazis und von ihren Lügen getäuscht und verführt werden. Wir alle müssen auf der Hut sein – und zwar sowohl die älteren Generationen, die den Zweiten Weltkrieg direkt oder indirekt erlebt haben, als auch die nachgerückten Generationen Y und Z, wie die seit den 1980-er Jahren Geborenen genannt werden.  Diese Internet-Generationen erleben den immensen Einfluss der Blogger und Influencer in den sozialen Medien und sind zu ganz besonderer Vorsicht aufgerufen.

Ein „Vogelschiss der Geschichte“?

Vorsicht ist geboten, wenn zum Beispiel Alexander Gauland, der Ehrenvorsitzende der AfD, einer im Deutschen Bundestag vertretenen Partei, von den Mitgliedern seiner Nachwuchsorganisation Beifall erhält für den Satz

“Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte”.

Dieser Vogelschiss in der deutschen Geschichte hat in Europa nach wissenschaftlich zuverlässiger Schätzung für 65 bis 70 Millionen Menschen den Tod bedeutet; hat in Deutschland zu millionenfachen Flüchtlingsströmen geführt; hat Städte in unvorstellbarem Maße durch Bombenangriffe verwüstet; und nicht zuletzt wurden in diesem Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte  6 Millionen jüdische Männer, Frauen und Kinder brutal ermordet.

Antisemitismus als Kunst getarnt

Wir müssen daher auf der Hut sein und verhindern, dass sich offener oder versteckter Antisemitismus in Deutschland wieder ausbreiten kann. Vorgänge wie sie in Kassel auf der soeben zu Ende gegangenen Documenta des Jahres 2022, der größten Kunstausstellung der Welt,  geschehen sind, dürfen sich nicht wiederholen. Dort wurden in einem seit 2002 existierenden Wimmelbild von 9 x 12 Metern antisemitische Karikaturen präsentiert. Ausgerechnet in Deutschland wird auf einem öffentlich zugänglichen Banner einer indonesischen Künstlergruppe ein Soldat abgebildet, der einen Schweinskopf als Gesicht hat, ein Halstuch mit einem Judenstern und einen Helm mit der Aufschrift MOSSAD trägt, der Bezeichnung für den israelischen Auslandsgeheimdienst. Eine weitere Figur wird mit Schläfenlocken, Reißzähnen, Schlangenzunge, blutunterlaufenen Augen und einer SS-Rune auf ihrem schwarzen Hut gezeichnet. Und dieser Skandal wird zunächst unter dem Deckmantel künstlerischer Freiheit tagelang geduldet und mit mehr als 40 Millionen Euro aus Steuermitteln finanziert.

Wir müssen „die Zeichen an der Wand“ sehen und vorausschauend deuten.  Wir müssen den Mut haben einzuschreiten, wenn wir sehen, dass auf Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin Hakenkreuze eingeritzt werden und wenn in der Nähe des früheren KZ-Lagers Buchenwald Gedenkbäume für die Opfer des KZ und der Todesmärsche beschädigt oder abgesägt werden. So geschehen im Juli 2022.

„Wenn Ihnen Menschlichkeit wichtig ist“

Im Jahr 2018 feierte Steven Spielbergs Film Schindlers Liste in den USA sein Silbernes Jubiläum in mehr als 1000 Kinos.  Spielberg sagte dazu in einem Fernsehinterview mit dem Sender NBC:

Ich glaube, dies ist die wichtigste Zeit, um den Film wieder in die Kinos zu bringen. Vielleicht ist es heute noch wichtiger, den Film …  wieder in die Kinos zu bringen, als bei seiner Premiere im Jahr 1993. Ich glaube, heute steht mehr auf dem Spiel als damals. Denken Sie an den Anti-Semitismus und an die Fremdenfeindlichkeit in den USA und in der gesamten Welt.“

Und über sein Werk sagt Steven Spielberg in einem sehr emotionalen Appell: „Dieser Film sollte für Sie wichtig sein, wenn Menschen Ihnen wichtig sind, wenn Menschlichkeit Ihnen wichtig ist, wenn es Ihnen wichtig ist, dass der Holocaust sich nicht wiederholt.“

Geradezu bekenntnisartig äußert sich der Regisseur im „Zusatzmaterial“ zur DVD des Films:

Schindlers Liste ist weitaus mehr als nur ein Film für mich, weil ich damit eine tiefgreifende Reise in die Seele eines einzigartigen Menschen unternommen habe und, wie sich herausstellen sollte, auch in meine eigene Seele.  Schindlers Liste zu drehen, das hat nicht nur meinen Glauben vertieft, sondern meinen Lebensweg verändert. Denn dadurch, dass ich die Geschichte von Oskar Schindler erzählte, habe ich gelernt, wie ein einziger Mensch, nicht eine Armee, sondern ein einziger Mensch die Welt verändern kann.“

Wenn Spielberg „gelernt“ hat, dass und wie ein einziger Mensch die Welt verändern kann, so denkt er dabei ohne Zweifel an eine positive Veränderung der Welt.

Das Glück der langen Friedenszeit

Wladimir Putin

Aber seit der Zeitenwende des 24. Februar 2022 müssen wir uns alle, sowohl diejenigen von uns, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, als auch jene, die das Glück einer langen Friedenzeit im Wohlstand erleben durften, mit dem Gedanken und der Gewissheit befassen, dass es auch genau umgekehrt funktioniert. Dass nämlich ein einziger Mensch die Welt auch in einem negativen, verbrecherischen Sinne mit verheerenden und mörderischen Konsequenzen verändern kann.

Gewiss ist jedoch auch dies: Steven Spielbergs „einziger Mensch, der die Welt verändern kann“, muss kein Oskar Schindler sein.  Jede und jeder von uns kann in ihrem und seinem Lebensbereich dieser einzige Mensch sein. Aber dieser einzige Mensch sollte ein denkender Mensch sein. Dann kann er oder sie Schindlers Lebensprinzip folgen:

„Ein denkender Mensch, der seinen inneren Schweinehund siegreich überwunden hatte, musste einfach helfen. Es gab keine andere Wahl.“

Den inneren Schweinehund überwinden

Oft höre ich in letzter Zeit den Satz „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Und daher hoffe ich zutiefst, dass es auch in unserer Welt genügend denkende Menschen gibt, die ähnlich wie einst Schindler ihren inneren Schweinehund siegreich überwinden und helfen, die Welt lebenswert zu verändern und zu erhalten. Menschen, jüngere und ältere, die den Mut haben, gegen die Verbrecher der aktuellen und jeder zu erwartenden negativen Zeitenwende Widerstand zu leisten.

Am 1. September 2022, dem 83. Jahrestag der von Adolf Hitler und seiner kriegsauslösenden Lüge verursachten Zeitenwende, war ein Ende der von Wladimir Putin zu verantwortenden Zeitenwende des 24. Februar 2022 nicht abzusehen. Die Teilmobilmachung von 300 000 russischen Soldaten, die Konsequenzen der Schein-Referenden  im Osten der Ukraine mit diktatur-konformen Zustimmungsraten, die Explosionen in den noch gefüllten Gasleitungen Nord Stream 1 und Nord Stream 2 und insbesondere Putins nicht einschätzbare  Drohungen  mit Atomwaffen haben die Gesamtsituation in höchst gefährlichem Maße verschärft.

Krieg, Opfer, Verzicht und Einschränkungen

Der ukrainische Praesident Wolodymyr Selenskyj spricht zu Beginn der Sondersitzung des Europäischen Parlaments per Videobotschaft aus Kiew.

Seit mehr als 7 Monaten befinden sich die demokratischen Staaten der Welt in einem indirekten Kriegsmodus.  Dieser verlangt nicht nur die kontinuierliche und uneingeschränkte soziale, finanzielle und militärische Unterstützung der Ukraine. Er macht es in gleicher Weise unverzichtbar, dass die Entscheidungsträger der freien Welt die Zivilcourage und die argumentative Kraft besitzen, die Bevölkerung ihres jeweiligen Landes zu überzeugen, dass für die Dauer und für die Folgen von negativen Zeitenwenden gemeinsame Anstrengungen, Opfer, Verzicht und sogar völlig ungewohnte gravierende Einschränkungen und Veränderungen des eigenen Lebens unerlässlich sind.

Von den Entscheidungsträgern der freien Welt darf dabei erwartet werden, dass sie   mit so guten und eindrucksvollen Beispielen voran gehen, dass wir alle nicht umhinkönnen, ihrem Vorbild zu folgen. Aber auch von den gedruckten und digitalen Medien könnten wir wirkungsvoll unterstützt werden. Natürlich sollen sie „sagen, was ist“, wie Rudolf Augstein es einst seinen „Spiegel“-Redakteuren nachdrücklich ans Herz gelegt hat. Aber dabei könnten sie in stärkerem Maße als bisher von ihrem traditionellen Credo abrücken „Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten“.

Denn in Kriegszeiten geht es nicht primär darum, die Auflagenhöhe bzw. die Einschaltquoten zu erhöhen. Leser, Hörer und Zuschauer benötigen „gute Nachrichten“; sie bedürfen der Ermutigung zum Durchhalten und zum Optimismus.

 

Dr. Werner Schneider war Studiendirektor am Rhein-Sieg-Gymnasium. 2000 Promotion an der Universität Bonn über Steven Spielbergs Film “Schindlers Liste”. 2016 Veröffentlichung des Buchs “Oskar SCHINDLER Steven SPIELBERG – Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt”. 2000 – 2020 Filmgestützte Vorträge an Schulen und öffentlichen Institutionen über Zivilcourage in der Nazi-Diktatur am Beispiel von Oskar Schindler.

Titelfoto: Ausschnitt aus Steven Spielbergs “Schindlers Liste”

 

Teil 1.: https://www.rantlos.de/politik/zeitenwenden-auf-dreisten-luegen-gebaut-i.html

 

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