Wolf Biermann – ein „deutsches“ Lesebuch
Als vor einigen Tagen im „Berliner Ensemble“ ein Mann in elegantem grauen Anzug ans Rednerpult trat, um den Liedermacher, Barden, Dichter und nun auch noch literarischen Zeitzeugen Wolf Biermann – erstens – zum 80. Geburtstag zu gratulieren und – zweitens – dessen Lebenswerk zu würdigen, da rieben sich nicht wenige der illustren Gäste verwundert die Augen. Der Mann war Joachim Sauer, Professor an der Humboldt-Universität. Und unten, inmitten der Zuhörerschaft, saß – aufmerksam lauschend – seine Ehefrau: Angela Merkel, die Bundeskanzlerin.
Ein ungewöhnlicher Laudator
Ausgerechnet der Mann, der sich ansonsten doch immer im Hintergrund hält, nie ein Interview gibt und allenfalls einmal als Begleiter seiner Frau bei der Eröffnung der Bayreuther Festspiele von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird – ausgerechnet der tritt als Festredner zu Ehren von Wolf Biermann auf?! Augen- und Ohrenzeugen der Veranstaltung geraten hinterher geradezu ins Schwärmen ob der Wärme in den Worten und der Genauigkeit der Charakterisierung des Laudierten. Wie erklärt sich dieses ungewöhnliche Duo? Hier der in Fachkreisen bekannte Wissenschaftler und äußerst diskrete Kanzlerinnen-Gatte? Und dort der freche Barde, Politclown, mitunter geniale Sprachjongleur, der einst begeisterte Kommunist und trotzdem von den DDR-Machthabern 1976 ausgebürgerte Unangepasste?
Das Rätsel löst sich bei der Lektüre von Seite 282 der (ganz bestimmt kein Zufall) fast zeitgleich zum Geburtstag erschienenen Biermann-Autobiografie „Warte nicht auf bessre Zeiten“. Dort beschreibt der jetzt 80-Jährige, wie er – obwohl damals bereits von den SED-Gewaltigen im deutschen „Arbeiter-, Bauern- und Friedensstaat“ mit Auftrittsverbot belegt – während der im Juli 1973 in Ostberlin stattfindenden X. Weltjungendspiele den Alexanderplatz aufsuchte und dort seine auf dem Partei-Index stehenden Lieder sang; abgeschirmt vom Zugriff der Stasi durch einen Kordon begeisterter junger Leute. Wörtlich: „Der Pulk an der Weltzeituhr hatte sich als erstaunlich stabil erwiesen, die kritischen Geister waren eben in der Überzahl. Jetzt erst, mehr als 40 Jahre später, traf ich einen Berliner Professor für Quantenchemie und freundete mich mit ihm an. Dieser Joachim Sauer war damals ein Doktorand an der Humboldt-Uni und mit seinen Kommilitonen abkommandiert worden… Sie sollten darüber wachen, dass der Klassenfeind im Getümmel der Weltfestspiele keinen ideologischen Schaden anrichtet. Er stand direkt hinter mir im Pulk, ist mir aber nicht, wie es sein Auftrag war, übers Maul gefahren“.
Resümee eines Lebens
Biermanns niedergeschriebene Erinnerungen sind mehr als nur der Bericht über ein in hohem Maße ungewöhnlich verlaufenes, vielfach gebrochenes, aber von ihm selber in der Rückschau wohl als glückhaft empfundenes Leben. Hier wird uns (und dabei vor allem den jüngeren Generationen) ein im Wortsinn deutsches Lesebuch vorgelegt – ausgerichtet an einem Lebenslauf, wie er „deutscher“ vermutlich kaum sein könnte. Es ist das Resümee eines Lebens, das im Schatten von SS und Gestapo begann, das Inferno der Bombennächte in Hamburg in sich einbrannte, den „am Busen meiner Mutter Emma eingesoffenen“ Kommunismus lange als Heilslehre befolgte, um schließlich – davon gänzlich desillusioniert – in die totale Abkehr von jeglichen ideologischen Glücksversprechen zu münden.
Um es gleich zu sagen: Wer dieses Buch zur Hand nimmt, wird die Lektüre nur zögernd unterbrechen. Es ist nicht nur spannend und mit großer Sprachwucht geschrieben, sondern nimmt die Leser vor allem gefangen durch die (absolut emotional gefärbte) Beschreibung von Personen und Begebenheiten. Ja, der clowneske Biermann lässt sogar immer wieder lächeln bei der Schilderung hoch dramatischer Vorgänge. Wobei er sich auf drei Quellen stützt: Erstens auf das eigene Gedächtnis; zweitens auf die Eintragungen in mehr als 200 Tagebücher, die er seit 1954 akribisch führte; drittens auf die exakten, viele zehntausend Seiten umfassenden Spitzelvermerke der Staatssicherheit zum „Zentralen Operativen Vorgang“ (ZOV) mit dem Kürzel „Lyriker“. Eines seiner Gedichte überschrieb er mit „Die Stasi war mein Eckermann“. Na ja, an Selbstbewusstsein mangelte es Biermann nie. Eckermann war Goethes Sekretär, und unterhalb Goethe mochte sich Biermann halt nicht einordnen…
Die krumme Lebenslinie
Wolf Biermanns Leben bewegte sich immer im Schatten seines Vaters – der für ihn (wie es bei vielen Kindern der Kriegs- und Vorkriegsgeneration der Fall war) im Grunde immer eine Phantomfigur blieb. „Weggerissen“, heißt es gleich zu Beginn des Buches, „wurde der Vater mir, als ich vier Monate alt war“. Und: „Der Kummer um meinen Vater blieb meine verwüstbare Hoffnung, meine bedrohte Liebe“. Und: „Diese heillose Wunde blieb lebenslänglich“. Biermanns Vater war Kommunist Wie auch Mutter Emma und Großmutter „Meume“ es waren. Aber der Vater war zudem auch noch Jude. Er wurde erst in Hamburg inhaftiert, dann nach Ausschwitz transportiert und dort schließlich ermordet. Das „Vermächtnis“ von Vater Dagobert zu bewahren, um dessen Tod einen Sinn zu geben – dieses Versprechen war dem jungen Wolf von Mutter und Großmutter abgenommen worden. Und der Bub war entschlossen, die Zusage zu halten.
Hier soll nun nicht die ganze Geschichte Biermanns erzählt werden. Dazu hält die Selbstbiografie unendlich viele Facetten bereit. Bezeichnend jedoch ist, dass sich an seinem Schicksal und seiner Person geradezu exemplarisch festmachen lässt, dass totalitäre Regime – ob faschistisch oder kommunistisch – kritische Geister ganz offensichtlich nicht aushalten, selbst wenn diese im Grunde ihres Herzens sogar willens sind, der Ideologie zu glauben und nach ihr zu handeln. Wolf Biermann wechselte (im Auftrag und mit dem Segen der Hamburger Familie versehen) als Jugendlicher in die DDR, war als Schüler bereit, den Aufstand von 1953 zu verteufeln und später auch den Mauerbau zu verteidigen. Aber er ertrugt das Eingesperrtsein nicht, fand das Misstrauen der Mächtigen gegenüber dem Volk empörend, kleidete diese Gefühle in Gedichte und Lieder, wurde schließlich für die SED-Größen so unerträglich (obwohl Biermann-Mutter Emma und Margot Honecker alte Freundinnen waren), dass sie ihn, nach einem von der westdeutschen IG Metall organisierten Auftritt in Köln 1976, nicht mehr in die DDR einreisen ließen.
Der Anfang vom Ende?
Wer die damaligen Ereignisse miterlebte, hat sie nie vergessen. Dass die Solidarität mit dem Barden Biermann im Westen Deutschlands riesengroß sein würde, hatte man im Zentralkomitee und im Politbüro der SED einkalkuliert. Was diese Leute freilich völlig überraschte, war die Reaktion im sozialistisch-deutschen Inland. Viele Künstler protestierten, Kollegen und Freunde wie Manfred Krug, Armin Müller-Stahl oder Jurek Becker. Manche zogen unter dem Druck der Partei wieder zurück. Es sind bewegende Abschnitte in dem Buch, die jene Zeit beschreiben. Und Biermann spart nicht mit deutlichen Worten, zum Beispiel gegenüber Gregor Gysi, dem „Retter“ des Milliarden schweren SED-Vermögens. Oder mit Blick auf Stefan Heym, oder Manfred Stolpe. Späte Rache eines Verbitterten? Oder vielleicht doch der Versuch eines Zurechtrückens von sich zunehmend verklärenden Sichtweisen im deutschen Westen wie im Osten?
Der „Fall Biermann“, also dessen Ausbürgerung aus der DDR, wird vor allem in der „alten“ Bundesrepublik gern als „Anfang vom Ende“ des SED-Staats gewertet. Interessanterweise macht sich der Betroffene diese Sichtweise in seiner Lebensbeschreibung nicht zu eigen. Und dies, obwohl er ansonsten doch überhaupt nicht zum Tiefstapeln neigt. Im Gegenteil, er selbst würde vermutlich nicht bestreiten, bezichtigte man ihn der Eitelkeit. Wolf Biermann kokettierte schon in der DDR mit seiner Popularität diesseits und jenseits von Stacheldraht und Mauer. Er zeigte sich demonstrativ mit prominenten Besuchern wie Rudi Dutschke, Joan Baez, Bob Dylan, Günter Grass und wie immer sie hießen. Warum auch nicht? Schließlich bedeutete die Popularität auch immer ein erhebliches Stück Sicherheit gegenüber dem ansonsten so allmächtigen Staats- und Parteiapparat.
Für seine zehn Kinder
Wolf Biermann gefiel (und tut das noch immer) sich keineswegs nur im Lichtkegel der Öffentlichkeit. Er ließ – auch das nachzulesen in dem Buch – zudem keine Gelegenheit aus, seine Wirkung auf das weibliche Geschlecht zu erproben. Das Ergebnis sind zehn Kinder – mit vier Frauen. Die haben entscheidend auch mit dem Entstehen des Buches zu tun. Biermann ist inzwischen offensichtlich ruhig geworden, hat den Jagdtrieb abgelegt und lebt bereits seit geraumer Zeit mit seiner Frau Pamela. Und diese hat ihm, schreibt er, die Aufgabe gestellt, sein Leben aufzuschreiben: „Du hast zehn Kinder, die ein Anrecht darauf besitzen, diese Geschichte zu kennen“. Damit hat sie, ohne Zweifel, Recht. Aber nur halb. Denn dieses deutsche Lesebuch sollte – über die zehn Kinder hinaus – eigentlich jeder in sich aufnehmen, der an der Geschichte dieses Landes nicht einfach vorbei geht.
Gisbert Kuhn
Wolf Biermann
Warte nicht auf bessre Zeiten
Ullstein-Propyläen
28 €
Bestellnummer: ISBN 13 9783 5490 74732