Wo Geschichte gemacht wurde
Hier ist einst Geschichte geschrieben worden. Was heißt „geschrieben“? Hier wurde Geschichte gemacht! Hier, an diesem Ort. An diesem Schreibtisch aus dunklem Holz. Von diesem Stuhl aus. Hier fiel die Entscheidung, das von Terroristen entführte „Lufthansa“-Flugzeug „Landshut“ im ostafrikanischen Mogadischu stürmen und die Geiseln befreien zu lassen; wider alle Erwartungen glückte das Kommando-Unternehmen, kostete aber den gekidnappten damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer das Leben. Hier liefen die Fäden zusammen und von hier gingen die Impulse aus, die letztlich ihren Höhepunkt im Ende der DDR, im Zusammenbruch des Kommunismus und in der Wiedervereinigung Deutschlands fanden. Und hier hatte einst ein ungeduldiger Jungpolitiker an den Gitterstäben gerüttelt und gerufen: „Ich will da rein!“ Er musste 16 Jahre darauf warten.
„Charme einer rheinischen Sparkasse“
Wir sprechen von Bonn, jener idyllisch am Rhein gelegenen „Kleinen Stadt in Deutschland“ (John Le Carré), die ein halbes Jahrhundert lang das politische Zentrum des westdeutschen Teilstaats namens „Bundesrepublik“ war. Bis am 20 Juni 1991, nach der Wiedervereinigung, der erste frei gewählte gesamtdeutsche Bundestag beschloss, den Regierungssitz nach Berlin zu verlegen. Und wir sprechen, in diesem Zusammenhang, von jenem architektonischen Komplex, dessen Fertigstellung etwas weniger als 20 Jahre zuvor eigentlich als Symbol für das Ende des bis dahin politisch aufrecht gehaltenen „Provisoriums“ und damit für die Fortdauer der Bonner Hauptstadtfunktion galt – das neu erbaute Kanzleramt. Vergangene Zeiten, Nostalgie, Historie? Ja, und doch auch wieder Nein. Denn seit Kurzem ist – eben an diesem Platz – ein Stück des alten, politischen Bonns wieder erstanden und wird von Beginn nächsten Jahres an für die Bevölkerung zugänglich sein.
Drei deutsche Bundeskanzler haben hier die Fäden des Staates zusammen gehalten: Helmut Schmidt 6 Jahre, Helmut Kohl 16 Jahre und Gerhard Schröder nur ein knappes Jahr lang. Als erster Hausherr zog, vor ziemlich genau vier Jahrzehnten, der hanseatische Sozialdemokrat Schmidt hier ein. Dass Schmidt irgendetwas lobte, was nicht von ihm stammte, war eher selten. Der (für damalige Verhältnisse) ausladende Zweckbau mit seiner dunkel polierten Metallfassade machte dabei keine Ausnahme. Der Hamburger billigte ihm – abschätzig – den „Charme einer rheinischen Sparkasse“ zu. Ob diese Qualifizierung nun die persönliche Gefühlslage Schmidts wiedergab, oder Ausdruck seiner Abneigung gegenüber Horst Ehmke (des engen Vertrauten seines Vorgängers Willy Brandt) war, weiß niemand. Möglicherweise fußte die Bemerkung ja auch nur auf einer historischen Fundstelle. Als im Sommer 1976 nämlich die Schlüsselübergabe der neuen Machtzentrale stattfand, erinnerte der seinerzeit zuständige Bundesbauminister Karl Ravens (SPD) an ein Zitat im „Berliner Lokalanzeiger“ anlässlich des Erweiterungsbaus der Reichskanzlei 1930. Dieser Neubau, stand da zu lesen, könnte auch das Verwaltungsgebäude eines beliebigen Industrie-Unternehmens, einer Großbank“ sein. Alles, mithin, schon mal dagewesen…
Ministerium für Entwicklungshilfe
Heute ist das einstige Kanzleramt Sitz des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) – besser immer noch bekannt als Entwicklungshilfe-Ministerium. Es ist eines jener sechs Ressorts, die aufgrund des so genannten Berlin/Bonn-Vertrags trotz des allgemeinen Umzugs an die Spree ihren „1. Sitz“ in Bonn behalten haben. Ungeachtet dessen residiert die Führungsspitze des Amtes natürlich ebenfalls in Berlin, und die Besuche der jeweiligen Chefs am Rhein sind eher selten. Da auch die Kameras nicht mehr allzu häufig auf den Komplex gerichtet sind, ließ das Interesse an der einstigen Bedeutung im Laufe der Zeit nicht nur außerhalb der Mauern, sondern auch intern immer mehr nach. Bis vor drei Jahren mit dem bayerisch-schwäbischen CSU-Politiker Gerd Müller (60) ein neuer Minister das BMZ übernahm. Und der war nicht nur politisch ehrgeizig, sondern auch privat neugierig.
Müller war als ganz junger Bundestagsabgeordneter mit ein paar ebenfalls noch jungen Kollegen 1994 einmal in diesen Räumen von Helmut Kohl empfangen worden und davon ziemlich beeindruckt. Was er freilich jetzt zu sehen bekam, war ernüchternd. Der große Kabinettsaal – seit Jahren unbenutzt. Im Kleinen Kabinettsaal (Beratungsstätte immerhin von Staatssekretären) tagte jetzt „dann und wann“ höchstens der Personalrat des Hauses. Im einstigen „Vorzimmer der Macht“, wo früher einmal die allmächtigen Chefsekretärinnen ihre Kontrollfunktion ausübten, saß jetzt eine Referentin des BMZ. Das Arbeitszimmer der Bundeskanzler – leer. Schmidt sowohl wie Kohl und Schröder hatten nach ihrer Abwahl, bzw. nach dem Regierungsumzug ihre jeweiligen eigenen Möbel, Bücher und Erinnerungsstücke mit nach Berlin genommen. Das dürfe, befand Gerd Müller, so nicht bleiben. Denn: „Hier, an diesem Ort und in dieser Stadt, ist deutsche Geschichte geschrieben worden – und zwar sehr gute für die Menschen und das Land“. Daraus entstand schließlich die Idee, das historische Kanzlerbüro mit Vor- und Empfangszimmer in den ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen und es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen: „Geschichte ist vor allem durch Erleben und Anschauen begreifbar“.
Briefe und Begegnungen
Die Sache hat den Minister aus Bayernschwaben nicht mehr losgelassen. Zumal er – natürlich – begeisterte Verbündete im Bonner Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und dessen Leiter, Prof. Hans Walter Hütter, fand. Das einst auf Initiative Helmut Kohls entstandene Museum (das am meisten besuchte in Deutschland überhaupt) hat in seiner Obhut schon heute das unter Konrad Adenauer bezogene alte Kanzleramt (das Palais Schaumburg) und den für den zweiten Bundeskanzler, Ludwig Erhard, von dessen Architektenfreund, Sepp Ruf, entworfenen Wohnbungalow im Park. Was also läge näher, als nach dem Abschluss der notwendigen Renovierungsarbeiten auch das neue (inzwischen natürlich auch „frühere“) Kanzleramt zur Besichtigung in dieses Gesamtensemble mit aufzunehmen?
Gerd Müller schrieb drei Briefe: an Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder. Er lud sie ein in ihre frühere Wirkungsstätte. Schröders Interesse war gering; er sei – ließ er wissen – von ihnen dreien schließlich der am wenigsten betroffene. Helmut Kohl kam – ungeachtet seines damals schon schlechten Gesundheitszustandes – im November 2014 zu Besuch. Natürlich an einem symbolträchtigen Datum, nämlich zur 25. Wiederkehr des Tages, an dem er im Deutschen Bundestag den berühmten 10-Punkte-Plan zur Deutschlandpolitik vorgetragen hatte. Gekommen waren damals auch Volker Rühe, der seinerzeitige CDU-Generalsekretär, und Friedrich Bohl, einst Chef des Kanzleramtes. Als der kranke Ex-Kanzler im Rollstuhl an verschiedenen Fotos vorbei geschoben wurde, hatte er – so Müller – Tränen in den Augen.
Zwischen Qualm und Devotionalien
Den nachhaltigsten Eindruck in der Reaktion auf die Briefe des Ministers aber hinterließ bei CSU-Müller eindeutig die Begegnung mit dem Sozialdemokraten Helmut Schmidt im Frühjahr vorigen Jahres in dessen Herausgeber-Büro bei der Hamburger „Zeit“. Schmidt fand offensichtlich Gefallen an dem – in seinen Augen gewiss – Polit-Greenhorn aus Bayern. Möglicherweise wohl auch, weil Müller sich munter am Rauchen beteiligte. Zwar keine Zigaretten, wohl aber Zigarillos. Das Ergebnis des Treffens jedenfalls war: Der greise „Weltpolitiker“ ließ den Besucher nicht nur an seinen global-politischen Überlegungen teilhaben, sondern stellte ihm das gesamte – aus Bonn einst nach Berlin „entführte“ – Interieur zur Verfügung: Schreibtisch, Schreibtischstuhl. Beistelltisch, Aschenbecher, Pfeife, Tabakdose, ein Radio, ein Buddelschiff, Bücher und all die Fotos von Begegnungen mit den Großen jener Zeit. Alles ist jetzt wieder akkurat an den ursprünglichen Plätzen angebracht, einschließlich der Bilder und eines Hufeisens in der „Kitsch-Ecke“ (H. Schmidt) hinter der Eingangstür.
Es wehte ein Hauch von Nostalgie durch die weiten Hallen der ehemaligen Machtzentrale am Rhein, als jetzt das Ergebnis der historischen Auffrischung erstmals vorgestellt wurde. Das hing, logisch, mit manchem Besucher zusammen – mit Persönlichkeiten, die früher selbst einmal Teil der politischen Macht und Verantwortung waren. Hanns Friederichs, beispielsweise, zeitweilig FDP-Generalsekretär und später Bundeswirtschaftsminister. Dazu Jochen Borchert von der CDU, Ex-Landwirtschaftsminister. Nicht zu vergessen der treue Kohl-Helfer Rudolf Seiters, dessen Name nur selten im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung auftaucht, ohne den jedoch vieles nicht so erfolgreich gelaufen wäre.
Geführte Besuche des einstigen Kanzleramtes werden von Anfang kommenden Jahres an möglich sein. Im Moment arbeiten die Verantwortlichen noch an einem Sicherheitskonzept. Dennoch sind bereits Anmeldungen möglich beim
Haus der Geschichte
Museumsmeile
Willy-Brandt-Allee 14
53113 Bonn
Tel.: 0228 91650
Fax: 0228 9165-302
www: hdg.de
Gisbert Kuhn (Titelfoto: Blick auf das ehemalige Bundeskanzleramt mit der Bronze-Skulptur von Henry Moore „Large Two Forms“)