Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

In Deutschland herrscht, wieder einmal, helle Aufregung. Vor allem in den Medien und im Bereich der Politik. Weil kürzlich in einer Nobelkneipe auf Sylt eine Horde offensichtlich gut situierte Jugendlicher und Heranwachsender nationalistische und fremdenfeindliche Parolen grölte. Und nicht nur auf der so genannten Insel der Reichen und Schönen ist das passiert. Sondern anscheinend auch an zahlreichen anderen Orten der Republik. Besonders bemerkenswert: Die Gröler entstammten anscheinend samt und sonders nicht dem „Mob“, sondern kamen erkennbar aus „gutem Hause“. Vor genau 60 Jahren herrschte in Deutschland ebenfalls schon mal große Aufregung. Damals – 18 Jahre nach dem Ende von Krieg und Nazi-Terror – begann in Frankfurt der erste so genannte Auschwitz-Prozess gegen einige der Massenmörder in den Konzentrationslagern.

Das eine hat mir dem anderen nichts zu tun? Natürlich handelt es sich bei den unappetitlichen Vorfällen auf Sylt und anderswo einerseits sowie dem spektakulären Gerichtsverfahren vor sechs Jahrzehnten in Frankfurt andererseits um zwei scheinbar völlig unterschiedliche Dinge. Und selbstverständlich ist das Absingen dämlicher Parolen durch wohlstands-verwahrloste Heranwachsende auch nicht im Ansatz zu vergleichen mit dem millionenfachen, am Schreibtisch geplanten und dann in Auschwitz, Treblinka und den anderen Orten des Schreckens geradezu industriell vollzogenen Mord durch die SS und die anderen Nazi-Schergen. Doch es dabei zu belassen, sich allenfalls ritualisiert „mit Abscheu und Empörung“ von dem Sylt-Vorfall zu distanzieren, greift zu kurz. Viel zu kurz. Denn ein solches Verhalten würde (zumindest) den Verdacht nahelegen, dass dieses Volk wirklich nichts aus seiner Geschichte gelernt hat.

Unter den Zuhörern des Frankfurter Auschwitz-Prozesses 1963/64 befanden sich auffallend viele Jugendliche. Studenten zumeist. Ihnen erging es wie dem Autor. Die meisten hatten den Namen Auschwitz bis dahin noch nie gehört. Weder in der Schule, noch in der Familie, wo man in aller Regel „das Gewesene“ am liebsten verdrängte und sich stattdessen am wachsenden Wirtschaftswunder-Wohlstand erfreute. Dermaßen unvorbereitet stürzten auf sie die von der Anklage verlesenen und den zahlreichen Zeugen beschriebenen unfassbaren Verbrechen ein. Zweifellos erwuchs nicht zuletzt aus diesem Erleben ein erheblicher Teil der späteren Jugendrevolte der „68-er“ gegen die Generation der Väter. Denn, so wenig die Jungen begreifen konnten, was in den Konzentrationslagern Menschen des eigenen Volkes anderen Menschen anzutun im Stande waren, so wenig konnten sie akzeptieren, dass die Täter (und die Gesellschaft in ihrer Mehrheit) einfach schweigend darüber hinweg gehen wollte.

„Deutschland den Deutschen“ wurde in Sylt (und, wie man inzwischen weiß, auch an zahlreichen anderen Orten der Republik) von jungen Männern und Frauen „um die Zwanzig“ gegrölt. Dazu auch noch „Ausländer raus“. Wer waren denn in der Hauptsache die in den Kz´s geknechteten, gefolterten, zu medizinischen Versuchen missbrauchten, vergasten, sonst wie bestialisch ermordeten und schließlich verbrannten Menschen? Es waren Ausländer wie Polen und Franzosen oder „Zigeuner“. Und es waren solche, die man schlichtweg als „nicht zum deutschen Blut gehörend“ zu Ausländern erklärte, beraubte und tötete. In erster Linie also Juden. Die Umsetzung der idiotischen Parole „Ausländer raus“ würde natürlich nicht bloß das deutsche Gesundheits-, sondern das gesamte Wirtschaftsleben lahmlegen. Es würde im Grunde zudem Millionen von Mitbürgern rechtlos machen, die – wie alle anderen Deutschen auch – von Artikel 1 des gerade in diesen Tagen 75 Jahre alt gewordenen und entsprechend gefeierten Grundgesetzes geschützt sind: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.

Es ist allerdings einfach und zu billig, jetzt im Brustton der Empörung eine drakonische Bestrafung der dämlichen Gröler von Sylt und diversen anderen Orten zu verlangen. So wie zum Beispiel den Verlust des Arbeitsplatzes oder die Verweisung von der Uni. Viel vernünftiger wäre es wahrscheinlich, würde ein Elternteil den (bzw. die) missratene Sprössling kräftig am Ohr ziehen, in die Mangel nehmen und dann gründlichen Nachhilfeunterricht in Geschichte erteilen. Früher hatte eine saftige Backpfeife auch oft Wunder bewirkt. Doch auch das ist seit Langem Geschichte. Dennoch stellt sich die Frage nach dem Zuhause.

Wird in der Familie über Politik und Geschichte gesprochen? Werden die politische, wirtschaftliche, militärische und auch geographische Situation erörtert, in denen sich Deutschland befindet. Eingehend, auch streitig, aber immer mit tiefer gehenden Hintergrund-Informationen als bloß jenen schreienden Überschriften aus dem „Netz“? Und, vor allem, wird den Jugendlichen eigentlich verdeutlicht, dass sie demnächst Gegenwart und Zukunft des Landes verantwortlich zu gestalten haben werden? Hat das die jetzige Eltern- und Großeltern-Generation als ihre Verantwortung überhaupt selbst schon begriffen? Schließlich sind beide bereits im Wohlstand als Normalzustand aufgewachsen und erleben jetzt zum ersten Mal die Gefahr, möglicherweise irgendwo Verzicht leisten zu müssen. Da kann einem schon schnell mal der Gedanke „Ausländer raus“ als Problemlösung kommen.  Zumal die Prediger scheinbar einfacher Lösungen zuhauf im Lande unterwegs sind.

Mit anderen Worten: Die gegenwärtig mit dem Begriff „Sylt“ verbundenen Vorgänge sind nicht nur unangenehm – sie sind, ohne jede Frage, Besorgnis erregend. Trotzdem bedeuten sie noch lange nicht den Untergang von Demokratie und Abendland und sollten deshalb auch nicht auf eine Diskussions- und Handlungsebene gehoben werden, die sie überhöht. Aber man muss sie ernst nehmen. Im schulischen Unterricht zuvorderst. Vor allem aber (soweit überhaupt noch vorhanden) am familiären Frühstücks-, Mittags- oder Abendessentisch. Denn, bei allen gesellschaftlichen Auflösungs- und Neuordnungs-Erscheinungen, bleibt die Familie noch immer der wichtigste Orientierungsgeber. Allerdings müssen die Eltern selber über die rechte (im Sinne von richtige) Orientierung verfügen.

Die alte Weisheit aus dem Lateinunterricht enthält dabei eigentlich alles, was als Wegweiser benötigt wird: „Principiis opsta et respice finem“. Zu Deutsch: „Wehret den Anfängen und bedenket das Ende“. Und da schließt sich auch wieder der Kreis zu dem Frankfurter Auschwitz-Prozess vor 60 Jahren. Hat Deutschland, haben die Deutschen nichts dazu gelernt?

 

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

   

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