Wir sind halt einfach besser…
Gott sei Dank sind wir Deutschen anders als die Anderen. Einfach besser halt. Wir packen an. Wir lassen die Dinge nicht einfach liegen oder vor sich hin treiben. Vielmehr bringen wir Ordnung hinein, wo Schlamperei droht. Wir organisieren und regeln, arrangieren und disponieren, schaffen und verwalten, planen und gestalten. Kurz – wir lassen Unruhe erst gar nicht aufkommen, damit auch Chaos keine Chance hat. Im privaten Bereich nicht und schon gar nicht im öffentlichen Leben. Wir erziehen unsere Kinder zu Höflichkeit, gegenseitiger Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft und statten sie dazu mit erstklassigen Schulen, genügend hoch motivierten Lehrern und tollen Unterrrichts- und Lernkonzepten aus. Ganz abgesehen davon spenden wir – nachweislich – regelmäßig viel Geld für Kampagnen gegen den Hunger in der Welt und üben uns auch sonst nicht wenig in Menschlichkeit.
Ein Modell für andere?
Und das ja nicht erst jetzt. Mit dem Slogan „Vielleicht sogar ein Modell für andere“ hatte schließlich schon 1976 ein gewisser Helmut Schmidt im Bundestagswahlkampf uns und unser Land als Vorbilder empfohlen. Mithin Grund genug eigentlich, um sich einmal zufrieden zurückzulehnen und entspannt durchzuatmen. Na gut, ganz so ungetrübt sonnig ist die Blütenwiese unserer Tüchtigkeit möglicherweise doch nicht. Wenn man genau hinschaut (aber muss man das denn?), sind da sogar ein paar schattige Tupfer. Und, seltsam – je länger man sich den Betrachtungen hingibt, desto mehr verblassen mit einem Mal die fröhlichen Farben auf dem selbst geschaffenen Gemälde und machen tristen, grauen Flächen Platz.
Es ist, in der Tat, schon komisch, wenn bei der morgendlichen Zeitungslektüre eine Schlagzeile von neuen Export-Höchstwerten und sprudelnden Steuerrekorden kündet und eine zweite daneben über marode Straßen, bröckelnde Brücken und verkommene Schulgebäude berichtet. Wie passt denn so etwas zusammen? Tüchtigkeit heute – Made in Germany? Kommen vielleicht, weil scheinbar die Normalität so glatt läuft, die Bürger von Schilda zu neuen, ungeahnten Ehren? Jene, die zum Beispiel vergessen hatten, das Bürgermeisteramt mit Fenstern auszustatten und nun versuchen, das Licht draußen in Kochtöpfen einzufangen und nach innen zu bringen? Oder war das etwa kein Schildbürgerstreich, dass die Verwaltung von Bonn (immerhin bis vor 17 Jahren vier Jahrzehnte lang Bundeshauptstadt), unbemerkt vom Kontrollorgan Stadtrat, einem Reinigungsunternehmen aus Düsseldorf einerseits drastisch weniger Zeit zum Putzen von Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden verordnete, ihm gleichzeitig jedoch lange Zeit doppelt so viel Geld wie vereinbart überwies?
Der altertümliche „Klassendienst“
Na klar, sagt sich der grübelnd-nachdenkliche Leser, da kann man sich nicht wundern, dass in den Klassenräumen die Tafeln ungewischt bleiben, der Staub sich auf der Kreideablage häuft und die ungeleerten Papierkörbe überquellen. Doch dann kommt plötzlich die Erinnerung an die eigene Schulzeit. Damals wurde, weil die Schulordnung das halt so verlangte, jede Woche bestimmt, wer Klassendienst hatte. Ganz einfach so. Ohne endlose Grundsatz-Debatten über angebliche „Unzumutbarkeit“ , fragwürdige „Eingriffe in die individuellen Freizeitrechte“ der Schüler etc., etc… Die Klassenzimmer waren einfach sauber zu halten, basta. Und wenn das nicht passierte, hatte man die Verantwortlichen am Wickel. Dass mit der Wiederbelebung einer solchen schul-internen Regelung die städtischen Reinigungskosten nicht drastisch gesenkt werden könnten – darüber braucht man wohl nicht ernsthaft zu reden. Aber möglicherweise würde bei dem einen oder der anderen Jugendlichen über die eingeforderte Eigenleistung ein Gefühl von Verantwortung und Verantwortlichkeit gegenüber einem ja schließlich mit Steuern finanzierten Gut (wie in diesem Fall der Schule) geweckt.
Nun ist es, in Tat und Wahrheit, ja nicht so, dass Gemeinsinn und Uneigennützigkeit hierzulande zu Fremdwörtern geworden wären. Was gerade in diesen Monaten zum Beispiel Einrichtungen wie das Rote Kreuz und die sonstigen sozialen Dienste, die Freiwilligen Feuerwehren oder die ungezählten anderen ehrenamtlich Tätigen leisten, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ohne deren selbstloses Engagement wären die aktuellen Schwierigkeiten mit dem Menschenansturm aus Nahost und Nordafrika nicht einmal im Ansatz zu bewältigen. Dasselbe aber gilt uneingeschränkt auch für die Einsätze dieser mutigen und nicht auf Entlohnung schauenden Mitbürger bei Naturkatastrophen wie etwa den verheerenden Hochwassern in den vergangenen Jahren. Es tut einem selbst gut, sich zwischendurch immer mal wieder daran zu erinnern.
Ein Hang zu Furcht und Panik
Es ist im Grunde ein schönes und gutes Land, in dem wir leben. Der brillante Lyriker, Satiriker und Beobachter Erich Kästner hat das in einem seiner Gedichte einmal so beschrieben: „Kennst Du das Land? Es könnte glücklich sein. / Es könnte glücklich sein und glücklich machen! / Dort gibt es Äcker, Kohle, Stahl und Stein / und Fleiß und Kraft und andre schöne Sachen. / Selbst Geist und Güte gibt´s dort dann und wann! / Und wahres Heldentum. Doch nicht bei Vielen…“ Da ist, indessen, dieser leidige (und in der Geschichte immer wieder verhängnisvolle) Hang zu massenhafter Angst, ja Panik. Solange innerhalb und außerhalb der Grenzen alles ruhig und „normal“ verläuft, verhält man sich auch in seinem täglichen sozialen und politischen Leben ruhig und „normal“, lobt oder kritisiert „die da oben“, ist aber im Großen und Ganzen zufrieden.
Da nimmt man durchaus gern auch mal wieder ab und zu eine literarische Auffrischung bei Goethe und erfreut sich an dessen Wohlstandsbürger im „Faust“: „Nichts Bessres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen / als ein Gespräch zu Krieg und Kriegsgeschrei, / wenn hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen“. Doch wehe, es beginnt zu kriseln, die Wirtschaft läuft nicht mehr ganz rund oder die Gesellschaft sieht sich vor wirkliche Herausforderungen gestellt. So wie jetzt, da das Aufeinanderschlagen der Völker „hinten, weit in der Türkei“ längst blutige Wirklichkeit geworden ist und der massenhafte Zustrom von Kriegs- und (ganz sicher auch) Wirtschaftsflüchtlingen tatsächlich ungeahnte und bislang in dieser Form auch ungekannte Leistungen und Fähigkeiten von uns fordert.
Lust am Scheitern?
Gar keine Ausflüchte – die Lage ist tatsächlich dramatisch! Sie ist es nicht zuletzt deshalb, weil Deutschland ganz allein steht. Weil die Europäische Union mit ihren 27 übrigen – angeblich in einer Wertegemeinschaft verschworenen – Partnern versagt. Weil deren Regierungen nicht nur jede praktische Unterstützung verweigern, sondern das auch noch mit Schuldzuweisungen an Berlin garnieren. Dies als ein Trauerspiel zu bezeichnen, ist geradezu noch beschönigend. Hier wird keineswegs allein Hilfe und Solidarität verweigert, sondern – viel schlimmer noch – das Kostbarste und Wertvollste gefährdet, was dieser Kontinent nach Jahrhunderten blutiger gegenseitiger Gemetzel geschaffen hat: Die Überwindung von nationalem Hass und Öffnung der Grenzen für Menschen, Waren und Geist.
Noch einmal – dieses Land könnte (ja, müsste) glücklich sein. Gerade einmal vor einem Vierteljahrhundert fiel den Deutschen im vierzig Jahre lang geteilten Land das unerwartete Geschenk der nationalen Einheit zu. Doch wo ist die Freude über Freiheit des Reisens, der Gedanken, des Wählendürfens oder der Presse geblieben? Stattdessen schallen – und das keineswegs nur östlich der Elbe – Hassparolen durch die Lande, werden Häuser abgefackelt, die Menschen Obdach bieten sollen, wird „Lügenpresse“ gebrüllt, werden „andere“ brutal zusammen geschlagen. Man nennt sich „Wutbürger“ und rennt blind hinter Kräften her, die kein anderes „Programm“ aufweisen, als „gegen die Fremden“ zu sein. Ja, Alexander Gauland, der Vizevorsitzende der „Alternative für Deutschland“ (AfD) hatte Recht, als er vor wenigen Monaten sagte, die Flüchtlinge seien „ein Segen“ für die AfD. Bei der Kommunalwahl jüngst in Hessen hatte die „Partei“ in zahlreichen Orten nicht einmal Kandidaten aufgestellt und erhielt dort trotzdem zweistellige Zustimmung. Das soll rationales, politisches Wählerverhalten sein? Nein, es ist der blanke Irrsinn.
Und da ist sie denn mit einem Mal wieder – jene Frage, die wir in Normalzeiten stolz und selbstbewusst mit „Na klar!“ zu beantworten pflegen. Die Frage, nämlich, ob wir (das doch so tüchtige Volk) nicht liebend gern in die Hände spucken, anpacken und Probleme beiseiteschaffen, wenn sie sich stellen. Die Antwort darauf fällt im Moment nicht eindeutig aus. Da sind (und noch einmal seien sie gelobt und bedankt) die vielen selbstlosen Helfer, auch zahllose Verwaltungen, nicht zu vergessen die oft genug hoffnungslos überforderten Polizisten. Da ist aber gleichzeitig die gefährlich große Zahl derer, die sich inzwischen nicht einmal mehr scheuen, wie jene braunen Horden aufzutreten, die Deutschland in die schlimmste Katastrophe der Geschichte geführt haben. Aber es mehren sich, in Zeitungs- und Rundfunk-Kommentaren wie im nachbarlichen Gespräch, zudem auch noch Töne, in denen mitunter fast schon so etwas wie ein lustvolles Erwarten des Scheiterns durchklingt. Frei nach dem Motto: “Ich habe es ja immer gesagt, und jetzt nach mir die Sintflut…”
Ende des Alptraums?
Realität oder vielleicht doch nur ein böser Alptraum, dem zum Glück ein Erwachen folgt? Ein Erwachen, möglicherweise mit der erneuten Erkenntnis: Ja, wahrscheinlich sind wir Deutschen wirklich anders als viele unserer Nachbarn. Aber ob wir „besser“ sind, ob wir uns „richtiger“ verhalten, ob wir klüger und „menschlicher“ handeln – die Antwort darauf ist noch nicht gegeben.
Gisbert Kuhn