Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

Deutschland hat eines der liberalsten Asylrechte der Welt. Wahrscheinlich sogar das das liberalste überhaupt. Aus gutem Grund. Der Terror und die unmenschliche Rassenpolitik und Verfolgung von Minderheiten durch die Nationalsozialisten im so genannten Dritten Reich trieb Abertausende aus dem Land. Sie verdankten ihr Leben, letztendlich, der Aufnahmebereitschaft und dem Schutz durch Menschen jenseits der Grenzen. Es waren, vor allem, diese Erfahrung und diese Erlebnisse, die vor exakt einem dreiviertel Jahrhundert jene im Parlamentarischen Rat vereinten 61 Männer und vier (!) Frauen veranlassten, in Artikel 16 des zunächst nur für Westdeutschland geltenden Grundgesetzes“ diesen Satz als Grundrecht aufzunehmen: „Politisch Verfolgte genießen Asyl“.

Ein ganz einfacher Satz. Nur vier Wörter. Dass diese wenigen Buchstaben einmal eine höchst brisante Wirkung in der deutschen Gesellschaft auslösen würden, wäre wohl niemandem der seinerzeit im Bonner Naturwissenschaftlichen Museum König Versammelten auch nur im Traum eingefallen. Wer hätte denn (aus damaliger Sicht) in einem Land Schutz suchen sollen, dessen Städte in Trümmern lagen, Millionen von Menschen kaum ein Dach über dem Kopf besaßen und Abertausende an Hunger und Kälte starben? Und wahrscheinlich wäre jeder für total verrückt erklärt worden, der vorausgesagt hätte, dass nur siebeneinhalb Dezennien später ausgerechnet dorthin ein millionenfacher Zustrom verzweifelter Menschen aus den Kriegs-, Terror-, Hunger- und Armutsgebieten rund um den Globus erfolgen würde. Ein Zustrom, dessen Umfang seit einiger Zeit erkennbar die politische Stimmung in der Bevölkerung beeinflusst. Und zwar in eine Richtung, die dem aufmerksamen Beobachter keine Freude bereitet.

Gemeint ist damit natürlich das rapide Anwachsen der Sympathiequote für eine Partei, deren praktisch einziges – wörtlich kaum verbrämtes – politisches Postulat in einem knappen „Ausländer raus!“ zusammengefasst ist. Rund 20 Prozent der Bundesdeutschen stimmen – zumindest laut Umfragen – dieser Forderung der rechtspopulistischen „Alternative für Deutschland“ (AfD) zu; tatsächlich dürften es sogar noch mehr sein. Ob dieser Trend stimmt, anhält oder möglicherweise sogar noch zunimmt, wird sich schon in wenigen Wochen erweisen, wenn nämlich in Bayern und Hessen neue Landtage gewählt werden. Das sind beklemmende Vorstellungen. Und zwar keineswegs allein für Angehörige jener – aussterbenden – Generationen, die noch unter dem Eindruck des „Auschwitz-Schocks“ und der Trümmerbilder mit einem „Nie-wieder“-Schwur in die neu geschaffene deutsche Demokratie hineingewachsen waren. Spielen das Wissen um die und die Konsequenzen aus der Vergangenheit keine Rolle mehr?

Das, freilich, ist nur die eine Seite des Problems. Die andere sieht so aus: Der einfache Satz „Politisch Verfolgte genieße Asyl“ weist den Grundgesetz-Artikel 16 (bzw. 16 a) als Individualrecht aus. Das heißt, wenn jemand nach Erreichen deutschen Bodens nur das Wort „Asyl“ ausspricht, löst er damit automatisch das ganze juristische Räderwerk des Anerkennungsverfahrens mit zahlreichen Einspruchsmöglichkeiten, schwierigen Herkunfts-Überprüfungen aufgrund fehlender Ausweise und anderer Dokumente usw., usw. aus. Dabei ist die Zahl der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, Syrien, Afghanistan oder dem Irak noch gar nicht berücksichtigt. Ergebnis: Die Kommunen stehen am Rand der Überforderung infolge ihrer Unterbringungs- und Versorgungspflicht. In den Schulen herrscht mittlerweile eine geradezu babylonische Sprachverwirrung, wobei in nicht wenigen Ballungs- und Problemgebieten die Anzahl von nicht Deutsch sprechenden Schülern über 50 Prozent liegt. Wie sollen die, ohnehin bereits weit über Gebühr geforderten, Lehrer diese Herausforderungen bewältigen?

Ist es, angesichts dieser Situation, ein Wunder, dass innerhalb der Gesellschaft Sorgen aufkommen, dass Staat und Bevölkerung die Grenzen der Leistungsfähigkeit erreicht haben? Hatte doch bereits 2015 der damalige Bundespräsident Joachim Gauck warnend gesagt: „Unsere Herzen sind weit, aber unsere Möglichkeiten beschränkt“. Längst hat das Thema in Lande keineswegs nur die bierseligen Stammtische erreicht – ein Thema, zusammengefasst in der Frage: Kann die unveränderte Beibehaltung eines, in dieser Auslegungsbreite weltweit einmaligen, Rechtsguts staatspolitisch höher bewertet werden als die Gefahr, dass innerer Friede und Zusammenhalt einer Gesellschaft zerbrechen? Es spricht doch deutlich für sich, wenn alle demoskopischen Umfragen ergeben, dass das Problem Migration und Zuwanderung bei mehr als der Hälfte der Bundesbürger noch vor Klimawandel und Ukrainekrieg auf der Sorgen- und Ängsteliste ganz vorn rangiert.

Und genau das führt zu einem Kernproblem. Es geht nicht darum, ob Deutschland in Zukunft den Verfolgten, Elenden und Entrechteten keine Zuflucht mehr bieten soll. Sondern es geht darum, dass die demokratischen politischen Kräfte endlich begreifen, dass sie sich eines Problems annehmen müssen, das die Menschen mittlerweile bis weit hinein in jene bürgerliche Mitte bewegt, die in der Vergangenheit immer für die Stabilität des Staates und seiner Institutionen stand. Sollte diese „Mitte“ wegbrechen, weil sie sich nicht mehr repräsentiert fühlt von den demokratischen Parteien – dann Gute Nacht Deutschland!

Im Grunde ist es wirklich ein Skandal, wie CDU, CSU, SPD, FDP und – nicht zuletzt – Grüne die Augen verschließen einem wachsenden Problemberg. Sie meiden die Asyl-Frage und eine mögliche Begrenzung der Zuwanderung wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser. Der sprach- und wortgewaltige Reformator Martin Luther hatte einst im thüringischen Schmalkalden von der Kanzel der St.-Georgs-Kirche den Satz gepredigt, man solle dem Volk aufs Maul schauen, aber ihm nicht nach selbigen reden. Dass sollte eigentlich auch heute im Stammbuch eines jeden Politikers stehen. Freilich – danach zu handeln, verlangt Mut. Es verlangt vor allem erst einmal die Traute, sich der Diskussion zu stellen und Dinge neu zu betrachten, wenn sich die äußeren Bedingungen im Verlauf der Jahre erkennbar verändert haben. Wie zum Beispiel die Asyl-Frage.

Leider herrscht auf dem bundespolitischen Parkett unverändert das Befolgen der im Parteiengeschäft „bewährten!“ Weisheit: „Vorsicht, schwieriges Thema! Kopf unten lassen. Wer ihn als erster hebt, ist weg vom Fenster“. Das haben gerade Jens Spahn und Siegmar Gabriel wieder erlebt – der eine Ex-Gesundheitsminister und jetzt Vize-Chef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der andere Ex-SPD-Vorsitzender sowie Bundeswirtschaftsminister, und jetzt Präsident der Atlantik-Brücke. Beide hatten überhaupt nichts Unmenschliches verlangt, sondern lediglich eine Diskussion darüber in Gang setzen wollen, ob das vor 75 Jahren entstandene Grundgesetz noch den heutigen Herausforderungen entspricht, Oder, ob es nicht – Beispiel Asyl als Individualrecht – den jetzt herrschenden Gegebenheiten angepasst werden müsse.

Weder Spahn, noch Gabriel hatten Patentlösungen zu bieten. Wie hätten sie auch? Ein so heikles Thema verlangt eine intensive Debatte und eine rechtlich-moralische Beleuchtung von vielen Seiten. Ohnehin kann ein verfassungsmäßig garantiertes Grundrecht nur mit einer Zweidrittel-Mehrheit von Bundestag und Bundesrat geändert werden. Ein Quorum, das zu erreichen unter heutigen Verhältnissen nur schwer vorstellbar ist. Aber man muss den Menschen (denen man schließlich das Mandat verdankt) wenigstens zeigen, dass man ihre Ängste erkennt und ernst nimmt. Das darf man doch nicht Leuten wie den (aus Hessen stammenden) thüringischen Neo-Nazi Björn Höcke und seinen Krakeelern überlassen!

Der Blick über die Grenzen würde eine Menge Anschauungsunterricht in Sachen „zeitgemäßes“ Asylrecht ermöglichen. Nicht zuletzt in Länder, die sich selber noch vor wenigen Jahren als „humanitäre Supermächte“ priesen. Zum Beispiel Dänemark oder Schweden. Wobei besonders Dänemark auf sich aufmerksam gemacht hat, weil dort ausgerechnet ein Linksbündnis die Wahlen gewann mit einem (inzwischen zur Praxis gewordenen) Programm, das eindeutig auf Migrations-Abschreckung setzte. Mit Erfolg, übrigens. Das würde in Deutschland nicht funktionieren. Muss es ja auch nicht. Aber aus Angst, in die „rechte Ecke“ gestellt zu werden, heiße Themen gar nicht aufzugreifen – das darf gewählten Volksvertretern nicht gestattet werden. Sonst würde ihnen, in der Konsequenz, auch erlaubt, die Stabilität der Gesellschaft aufs Spiel zu stellen.

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

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