Wettlauf der „Militärexperten“
Von Gisbert Kuhn

„Was nützt“, schrieb vor mehr als einem Jahrhundert der liberale Politiker und Theologe Friedrich Naumann, „die beste Sozialpolitik, wenn die Kosaken kommen?“ Der langjährige christdemokratische Bundeskanzler Helmut Kohl baute das Zitat gern und oft in seine Reden ein. Vor allem, wenn es ihm darum ging, bei seinen Zeitgenossen das Bewusstsein zu wecken, dass es gelte, Frieden und Freiheit zu bewahren und es dafür der Sicherheits- und Außenpolitik bedürfe. Für diese Mahnung erntete der Pfälzer nicht selten Hohn und Spott sowohl vom politischen Gegner und von großen Teilen der Medien, als gern auch aus dem Bürgertum, das sich in den langen Jahrzehnten des Friedens und ständig steigenden Wohlstands an diese „Normalitäten“ gewöhnt hatte. Schöne Beispiele dafür sind der Bundestagswahlkampf im vergangenen Jahr und das Regierungsprogramm der darauf folgenden, neuen Ampel-Regierung. Außen- (vor allem Ost-) Politik, Verteidigungs-Anstrengungen angesichts des erbarmungswürdigen Zustands der Bundeswehr usw. kamen so gut wie nirgends vor. Sie wurden allerdings von den Wählern auch nicht abgefragt.
Seit dem von Russlands Präsidenten Wladimir Putin befohlenen Überfall des „Bruderstaats“ Ukraine herrschen allenthalben (und besonders in Deutschland) Überraschung und Empörung sowie Entsetzen über das unmenschliche Vorgehen der russischen Soldaten gegen Zivilisten und das sinnlose Zerbomben ganzer Städte. Mitunter scheint es als seien die Menschen aus einem wohligen Traum aufgewacht und sähen sich – völlig unerwartet – einer garstigen Wirklichkeit gegenüber. Entsprechend groß und oft genug auch lautstark sind selbstbezogenen oder gegenseitigen Schuldzuweisungen, dass die nahende Katastrophe nicht rechtzeitig erkannt worden sei. Dabei ist die Erklärung ganz einfach: Weil man sie (besser: die Vorboten) nicht sehen und mithin auch nicht deuten w o l l t e !
Ja, man kann Putin Vieles vorwerfen und nachsagen. Eines aber ganz gewiss nicht – dass der einstige Geheimdienstmitarbeiter mit seinen Gedanken und den daraus erwachsenden Vorhaben hinter dem Berg gehalten hätte. Seine frühzeitige (und vielfach wiederholte) Aussage, der Zerfall der Sowjetunion sei für ihn die „größte geostrategische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen, der angeblich zu normalen Manöverzwecken befohlene mehrfache Droh-Aufmarsch von zehntausenden Soldaten und schwerem Gerät an den Grenzen der (einstmals sowjetischen) Baltischen Staaten und der Ukraine, das rücksichtslose Plattmachen der tschetschenischen Hauptstadt Grosny und der syrischen Handelsmetropole Aleppo, der im ost-ukrainischen Donbass angezettelte „Freiheitskampf“ von Separatisten und die anschließend von den so genannten grünen Männchen befreite Schwarzmeer-Halbinsel Krim.
Das alles ist abgelaufen vor unser aller Augen und Ohren. Der Westen hat dann natürlich jedes Mal pflichtgemäß protestiert, indem er seine Abscheu und Empörung notifizierte und ein paar wenige wirtschafts-Sanktionen verhängte. Aber die taten nicht sonderlich weh. Sollten sie auch nicht, man wollte ja schließlich weiterhin gut Freund bleiben und Wandel dort durch Handel hier herbeiführen. Und was das öffentliche Echo anbelangt – ist schon wieder vergessen, wie oft (vor allem zu Beginn des Krieges) auch hierzulande die Frage zu vernehmen war, „was geht uns die Ukraine an“? Gut, man kann sagen, das sei Schnee von gestern. Aber es erklärt nicht ein anderes Phänomen. Wie kommt es, dass mit einem Mal aus einem Volk, das seit dem Ende des Jahrzehnte langen Ost/West-Gegensatzes, des Zusammenbruchs von Warschauer Pakt und Kommunismus geradezu verzückt die angeblichen Friedensdividende wie eine Wunder spendende Monstranz vor sich hertrug, weil wir ja „nun umgeben sind nur noch von einer Welt von Freunden“? Und– wie kann es geschehen, dass – von der Mitte des Bundestages angefangen bis ins Zentrum der bundesdeutschen Redaktionen – momentan massenweise Militärexperten auftreten?
Was Putin in der Ukraine anrichten lässt, ist ein Drama, eine Tragödie, eine Katastrophe. Es ist logisch darum, dass die Menschen sich fragen, wie und warum es dazu überhaupt kommen konnte. Aber löst es irgendwelche Probleme, wenn man zu jetzt ergründen sucht, ob Schröder, Steinmeier, Scholz, Merkel, die NATO, die EU oder gar die Vereinten Nationen an irgendeiner Stelle in den vergangenen Jahren dieses oder jenes hätten richtiger sagen oder machen sollen? Oder ist es vielleicht eher ein Fall für Tiefenpsychologen, herauszufinden, weshalb und wodurch veranlasst, ein einziger mächtiger Politiker ganz offensichtlich schon vor etlicher Zeit beschlossen hat, sogar im aufgeklärten 21. Jahrhundert die Uhren der Politik auf seine Vorstellung einzurichten? Und dies ohne jede Rücksicht auf bestehende Verträge oder internationale Abmachungen?
Deutschland und die Deutschen sind, das haben zahlreiche Ereignisse von durchaus unterschiedlicher Bedeutung gezeigt, staatlich wie persönlich innerlich nicht sonderlich gefestigt. Die Neigung zu Sorge, Angst, ja Panik ist deutlich ausgeprägter als zu Gelassenheit und Ruhe. Umso verblüffender erscheint deshalb der sich in den vorigen Wochen aufbauende Druck auf die zögerliche, Bundesregierung, sich den USA, der NATO und anderen Ländern bei der Lieferung auch schwerer Waffen anzuschließen. Umfragen zufolge sind es vornehmlich sogar die jüngeren bis mittleren Generationen, die entsprechende Haltungen vertreten. Also deutlich Menschen, die keine eigenen Erinnerungen an den Weltkrieg und dessen Folgen besitzen.
Wahrscheinlich wird man unterstellen dürfen, dass diese Einstellungen keineswegs Ausdruck von „Kriegstreiberei“ sind, sondern ausschließlich dem Wunsch entspringen, den geknechteten Menschen in der Ukraine ein ihrem Freiheitskampf zu helfen. Da wird man halt schnell einmal zum Fachmann für Panzer, Haubitzen, Flugabwehrsystemen oder Drohnen. Ob die einzelnen Gerätschaften wirklich sinnvoll sind, zeitlich passend bereitstehen, die dazu passende Munition in ausreichendem Maße verfügbar ist und manches Andere mehr – ist das bloß die Bedenkenträgerei alter weißer Männer? Andersherum – wie gerechtfertigt ist der oft zu vernehmende Verweis auf die Unberechenbarkeit eines gefährlichen und bedenkenlosen Weltmacht-Fantasten? Es ist auffallend, dass die Warnungen vor unüberlegten Handlungen westlicher Staaten oder Politiker besonders häufig aus den Kreisen wirklicher Experten kommen. Also aus dem Militär.
Das zeigt die ganze Hilf- und Ausweglosigkeit bei der Suche nach Lösungen zur Beendigung eines absolut sinnlosen und nur den imperialen Vorstellungen eines einzelnen Machtpotentaten und dessen Clique entsprungenen Krieges. Jeder weiß, dass am Schluss ein Kompromiss her muss. Einer, der – wie man sagt – der Gesichtswahrung dient. Also irgendein Preis für den Diktator. Aber wem gegenüber kann sich dieser Mann überhaupt noch „gesichtswahrend“ zeigen? Seinem weitgehend in Unwissenheit gehaltenen Volk? Seinen Generälen, denen er wahrscheinlich einen schnellen Triumph versprochen hat? Oder der internationalen politischen Gemeinschaft, deren Bedeutung er zuvor mit einer einzigen Handbewegung beiseite wischte und die ihm nun vermutlich kein Wort mehr glauben wird?
Mit hoher Sicherheit wird bei einem „Kompromiss“ der Ukraine und deren Bevölkerung Gebietsverzicht abverlangt werden. Da wird dann nicht mehr nach dem „warum eigentlich“ gefragt. Zählen wird dann nur ein Abschluss. Aber wer kommt an den Mann im Kreml überhaupt noch ran? Mit Ausnahme des amerikanischen und des chinesischen Präsidenten haben es fast alle Mächtigen dieser Erde versucht. Bis hin zu Chef der Vereinten Nationen. Hoffnungslos. Jetzt hat sich ein Mann der Vergangenheit zurückgemeldet – Horst Teltschik, einst Helmut Kohls engster außenpolitischer Berater und später lange Jahre oberster Manager der renommierten Münchener Sicherheitskonferenz. Und das mit einem durchaus originellen Gedanken. Angela Merkel – Sie wäre, glaubt zumindest Teltschik, zurzeit wohl die Einzige, die vielleicht noch an Wladimir Putin herankäme. Doch die Ex-Kanzlerin hat sich schweigend in der Uckermark verschanzt. Indessen: Wäre das nicht Drama in der Ukraine nicht wenigstens einen Versuch wert?
Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.
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