Wettlauf der (Selbst) Entschuldiger
Was bleibt von der „Ära“-Merkel?
Von Günter Müchler
„Die können sich doch alles erlauben!“ Den Satz hört man häufig. Gezielt ist er auf Politiker. Meist kommt er wutschnaubend daher und von Leuten, die man getrost als Demokratieverächter bezeichnen kann. Die Wahrheit sieht anders aus. Hierzulande genießen Politiker keine Sonderrechte. Für sie gelten die schärfsten Gesetze überhaupt. Ständig unter Beobachtung, müssen sie ihre Rede kontrollieren und ihre Gesichtszüge. Jeder falsche Zungenschlag kann öffentlich skandalisiert werden. Ein Lacher zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort kann die Karriere kosten. Wenn Fehler vorkommen, muss man sie unter den Teppich kehren. Denn das Eingeständnis von Fehlern, flüstern die Berater den Politikern ein, sei das Eingeständnis der Schwäche.
Die vergangenen Tage und Wochen haben gezeigt, dass diese Verhaltensregel durch Putins Überfall auf die Ukraine außer Kraft gesetzt ist. Die Selbstdemaskierung des russischen Präsidenten als Dschingis Khan des 21. Jahrhunderts hat viele in Rechtfertigungsnot gestürzt. Diejenigen, die in den vergangenen 20 Jahren Geschäfte mit Putin gemacht haben, die ihn verteidigt, ihn angehimmelt, sich im Glanz der autokratischen Inszenierung gesonnt und mit dem Diktator getanzt haben – wie eine ehemalige österreichische Außenministerin. Und auch die haben etwas zu erklären, die ihre Politik auf das Prinzip Hoffnung gesetzt und die Augen verschlossen haben vor den Gräueln von Grosny, den Abgründen von Aleppo und der Kaperung der Krim.
An Zerknirschtheit ist kein Mangel. Seit dem 24. Februar, jenem Unheilstag, an dem der Überfall begann, haben zahlreiche Politiker um Absolution gebeten. Gregor Gysi, Galionsfigur der Partei der Linken, die als Putin-Versteherin mit der AfD rivalisiert, hat sich für seine Irrtümer entschuldigt. Von Robert Habeck, Superminister in der Ampel-Regierung, stammt das Eingeständnis, naiv gewesen zu sein. Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig hat ihren landespolitischen Einsatz für North-Stream-2 bedauert. Schließlich die Confessio Frank-Walter Steinmeiers. Es war ein Kometeneinschlag, als der erste Mann im Staat vor Journalisten bekannte, dass ein wesentlicher Teil der Politik, die er als langjähriger Außenminister mitgestaltet hat, auf einer Fehleinschätzung beruhte.
Steinmeiers öffentliche Beichte, die in der Geschichte der Bundesrepublik vergeblich ihresgleichen sucht, ist weithin mit Respekt quittiert worden. Zugleich hat sie Erwartungen geweckt. Riesengroß steht die Frage im Raum, wie es Angela Merkel mit ihrer Verantwortung hält. Immerhin war sie die Vorgesetzte des Außenministers Steinmeier. Sie war Chefin in in jenen Jahren, von denen man nun richtigerweise sagt, dass die Flammenschrift an der Wand eigentlich nicht übersehen werden konnte. Hat Merkel vor, abzutauchen wie Gerhard Schröder?
Der Vergleich mag unzulässig erscheinen. Von Schröder trennen Merkel Welten. Mit Schröders Charaktereigenschaften, seiner Geldgier, seinem Mutwillen, seiner Rotzigkeit, war Merkel nie behaftet. Und was die SPD in toto betrifft, hatte ihre Russlandpolitik andere Triebkräfte und Voraussetzungen. Die Generation Steinmeier wurde sozialisiert in einer Zeit, da die Ostpolitik Brandts bereits unfruchtbar war wie ein versteinertes Dogma. Diese Generation hängte sich an die Illusion, den Imperialismus des Kreml durch Friedensschalmeien und Demonstrationen im Bonner Hofgarten besiegt zu haben. Solche Mythen hatte die aus dem Osten kommende Merkel nicht im Gepäck. Was aber dann? Sie sollte es uns erklären. Feststeht, dass im Ergebnis Merkel und die SPD an einem Strang zogen. Der Glaube an den Fetisch Wandel durch Handel und an die unüberbietbaren Heilkräfte des Diskurses, die Vernachlässigung der militärischen Sicherheit, die Brüskierung der Osteuropäer und die Selbstidentifizierung Deutschlands als Softpower: All das war die Politik der Großen Koalition, die Merkel von Amts wegen vertrat.
Wie ein Fluch belasten die Fehler und Versäumnisse, die auf dem Energiesektor begangen wurden, die aktuelle Politik. Selbst der Ladenschwengel auf dem Börsenparkett weiß, dass Klumpenrisiken um jeden Preis zu vermeiden sind. Merkel und ihre Koalitionsgenossen wollten davon nichts wissen. Sie würgten jede energiepolitische Diskussion ab, mit fatalen Folgen: Nach der Entsorgung von Kernenergie und Kohle ist die Abhängigkeit vom russischen Gas so groß, dass die Bundesrepublik ihre außenpolitische Handlungsfreiheit eingebüßt hat. In dem Augenblick, wo Moskau ukrainische Städte in Schutt und Asche legt und gezielt Zivilisten mordet, spült Deutschland nolens volens Putin täglich mehr Geld in die Kasse als sie der Ukraine in ihrem Überlebenskampf zur Verfügung stellt.
Merkel war eine bedeutende Kanzlerin. Uneitel, skandalfrei und allzeit beherrscht, hat sie einen seltenen und vorbildhaften Politikstil verkörpert. Verschattet sind dagegen die Resultate ihrer Politik. Putins Zivilisationsbruch hat dafür gesorgt, dass die Bilanz über die Ära Merkel zu einem frühen Zeitpunkt eröffnet wird. Es ist an ihr, der Ex-Kanzlerin, von ihrem Ansehen zu retten, was zu retten ist.
Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.
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