Weirichs Klare Kante
Des Bremsers Lohn

Selbstbescheiden ist die Berliner Ampel nicht. Sie nennt sich „Fortschrittskoalition“, obwohl ihre Kritiker ihr Rückschritt oder Stillstand vorwerfen. Die Schnecke symbolisiere den Fortschritt, gab einst Günter Grass seinem Kanzler Willy Brandt als reformistische Wendung mit. Doch der zweifelte mit den Jahren an dieser Erkenntnis und fragte: „In welche Richtung kriecht die Schnecke? Und weiß ich, wer sie zertritt?“
Solche Zweifel plagen vor allem die FDP, die in vielen Fragen auf dem Bremspedal steht und Verhinderung in Fragen der Energie- und Verkehrspolitik als Fortschritt für ihre Wählerklientel ausgibt. Freilich ist es fraglich, ob der Wähler Opposition in der Regierung honoriert. Die bisherigen, enttäuschenden Ergebnisse bei Landtagswahlen weisen die Liberalen als verwundbarsten Partner im Regierungsbündnis aus, weshalb Parteichef Lindner als Arznei für eine Gesundung die vermehrte Profilschärfung angesagt hat.
Umfragen zeigen, dass die FDP vor allem an die rechtspopulistische AfD und die Partei der Nichtwähler verloren hat. Vor dem nächsten landespolitischen Test am kommenden Sonntag in Bremen ist die FDP aber eher zuversichtlich. Ihr Bundesparteitag und die kämpferische Abwehrhaltung zu den Heizungs-Plänen der Grünen haben in den Umfragen für ein Zwischenhoch gesorgt. Bei den vorigen Bürgerschaftswahlen hatte die FDP in der Hansestadt die Fünf-Prozent-Hürde knapp übersprungen, nach den jetzigen Wahlumfragen sieht es eher nach einer Rückkehr aus. Bremsen kann sich also lohnen.
SPD und CDU liefern sich nach den jüngsten Befragungen ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die Grünen schwächeln allerdings, und so ist es fraglich, ob es für rot-grün ohne Beteiligung der Linken reicht. Von einer möglichen Allianz mit der FDP ist gar nicht die Rede.
Dies zeigt, wie unerwünscht die Berliner Konstellation auf Landesebene ist. Finanzminister Lindner hat als FDP-Chef erst einmal eine Verschnaufpause. Die eigentliche Bewährungsprobe steht im Herbst bei den landespolitischen Entscheidungen in zwei wichtigen Flächenländern an – nämlich in Hessen und Bayern.
Dieter Weirich (Jg. 1944), gelernter Journalist, kommentiert jede Woche mit spitzer Feder seine Sicht auf das aktuelle Geschehen in rantlos; mit freundlicher Genehmigung der “Zeitungsgruppe Ostfriesland (ZGO)”. Weirich war von 1989 bis 2001 Intendant des deutschen Auslandsrundfunks Deutsche Welle. Zuvor gehörte er eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Abgeordneter dem Hessischen Landtag und dem Deutschen Bundestag an, wo er sich als Mediensprecher seiner Partei und als Wegbereiter des Privatfernsehens einen Namen machte. Außerdem nahm er Führungspositionen in der PR-Branche in Hessen wahr. Weirich, der sich selbst als “liberalkonservativen Streiter” sieht, gilt als ebenso unabhängig wie konfliktfreudig.