Freude und Scham

Dieter Weirich

Es gibt schicksalsschwere Tage in der Geschichte einer Nation, die sich oft auf ein Datum verdichten. In Deutschland ist dies der nächste Woche anstehende 9. November, der nicht nur an den Fall der Berliner Mauer 1989 und an die überschäumende Freude der Menschen über die Einheit erinnert, sondern auch an die Reichskristallnacht 1938 und den Beginn der barbarischen Auslöschung der Juden.

Der 9. November ist ein „verhinderter Feiertag“.  Dieser, mit den vor 33 Jahren in der ganzen Welt verbreiteten Bildern des sich wiedervereinenden Volkes, hätte sich stärker als der 3. Oktober als nationaler Gedenktag angeboten. Doch die Scham über die brennenden Synagogen und den größten Völkermord in der europäischen Geschichte ließen eine Fokussierung auf die Wiedervereinigung nicht opportun erscheinen.

Freude und Scham begleiten die deutsche Geschichte im vergangenen Jahrhundert. Hier die hellen Farben jubelnder Menschen bei der Überwindung der Teilung, dort die dunklen Bilder brauner Gewalttäter von SA, SS und Hitlerjugend bei der Zerstörung von 1400 Synagogen und Gebetstuben.

Der 9. November 1918 steht aber auch für das Ende der „Novemberrevolution“ und damit des deutschen Kaiserreiches. Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann rief vom Berliner Reichstag die parlamentarische Republik Deutschland aus, der Kaiser verzichtete auf den Thron, die Monarchie dankte als Staatsform ab. Wenige Stunden später proklamierte Karl Liebknecht die sozialistische Republik, die von ihm gewünschte Räte-Republik nach russischem Vorbild setzte sich aber nicht durch. Die Weimarer Demokratie begann.

Genau hundert Jahre ist zudem nun der „Hitler-Putsch“ her. Am 9.November 1923 probte Adolf Hitler in München den Aufstand. Im Jahr der Hyper-Inflation startete die NSDAP mit Hitler und Erich Ludendorff einen Versuch, die Reichsregierung nach dem Vorbild Mussolinis zu stürzen, die parlamentarische Demokratie zu beseitigen und eine NS-Diktatur zu errichten. Der Staatsstreich scheiterte nach blutigen Auseinandersetzungen, die NSDAP wurde verboten, Hitler in der Festung Landsberg inhaftiert, wo er seine Gedanken in „Mein Kampf zu Papier brachte.

„Novemberblues“ werden landläufig die Seelentiefs in dieser Jahreszeit genannt. Die deutsche Geschichte kennt solche Depressionen auch. Der 9. November ist ein sehr „deutscher“ Tag.

 

Dieter Weirich (Jg. 1944), gelernter Journalist, kommentiert jede Woche mit spitzer Feder seine Sicht auf das aktuelle Geschehen in rantlos; mit freundlicher Genehmigung der “Zeitungsgruppe Ostfriesland (ZGO)”. Weirich war von 1989 bis 2001 Intendant des deutschen Auslandsrundfunks Deutsche Welle. Zuvor gehörte er eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Abgeordneter dem Hessischen Landtag und dem Deutschen Bundestag an, wo er sich als Mediensprecher seiner Partei und als Wegbereiter des Privatfernsehens einen Namen machte. Außerdem nahm er Führungspositionen in der PR-Branche in Hessen wahr. Weirich, der sich selbst als “liberalkonservativen Streiter” sieht, gilt als ebenso unabhängig wie konfliktfreudig.

 

 

 

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