Haudrauf ist falsch

Dieter Weirich

Seit der niedersächsischen Landtagswahl geben sich Vertreter der Ampel-Koalition und der CDU-Opposition gegenseitig die Schuld am Erstarken der AfD, die mit ihrem zweistelligen Ergebnis der FDP den Garaus gemacht, der CDU, eine handfeste Orientierungskrise beschert und nachdenklichen Genossen auch bei der SPD Rätsel aufgegeben hat. Statt selbstkritisch Wege zu suchen, wie man die Protestwähler zurückgewinnen kann und vor allem jene 40 Prozent Bürger zu motivieren, die sich erst gar nicht zur Urne bequemen, begeben sich die Parteien in den üblichen taktischen Clinch, mit dem sie für den von ihnen beklagten Verdruss selber sorgen.

Wenn die CDU, die als Opposition im Bund eigentlich den demokratischen Protest sammeln und mobilisieren müsste, Wähler in der Größenordnung einer Mittelstadt an die AfD verliert, ist das mehr als ein Weckruf. Friedrich Merz, der neue Hoffnungsträger, hatte bei seinen Bewerbungsreden für den Parteivorsitz noch großspurig angekündigt, die AfD halbieren zu wollen.

Die von der AfD frisch gewonnenen Wähler stammen zu großen Teilen nicht aus dem rechtsextremen Milieu, sind keine Faschisten, sondern vorwiegend verunsicherte Mittelständler, die auch für den Exodus der FDP gesorgt haben. Sie treibt die Angst um. Energiekosten, Inflation, unkontrollierte Zuwanderung, das sind ihre Themen.

Wer dieses Potential zurückgewinnen will, darf nicht mit „Haudrauf-Semantik“ und der unaufhörlichen Beschwörung demokratischer Einheitsfronten reagieren.  Wähler wollen sich nicht geirrt haben, deshalb braucht es starker Argumente, um sie von ihrem Irrweg abzubringen. Den Schaum vor dem Mund sollte man AfD-Funktionären überlassen, die mit ihren Programmen zur Genüge ihre Koalitionsuntauglichkeit beweisen.

Klare Abgrenzung statt Ausgrenzung ist geboten. Wenn allerdings bisherige AfD-Wähler oder ehemalige Mitglieder, die sich um eine Aufnahme in eine der etablierten Parteien bemühen, toxische Reaktionen auslösen, dann muss das zu Denken geben. Auch die einheitliche Ablehnung aller Bundestagsparteien, der AfD die aufgrund des Wählervotums zustehenden Funktionen in Präsidium und Ausschüssen zu geben, schafft nur Märtyrer. Die administrative Behinderung im politischen Wettbewerb ist ein Zeichen von Schwäche.

 

Dieter Weirich (Jg. 1944), gelernter Journalist, kommentiert jede Woche mit spitzer Feder seine Sicht auf das aktuelle Geschehen in rantlos; mit freundlicher Genehmigung der “Zeitungsgruppe Ostfriesland (ZGO)”. Weirich war von 1989 bis 2001 Intendant des deutschen Auslandsrundfunks Deutsche Welle. Zuvor gehörte er eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Abgeordneter dem Hessischen Landtag und dem Deutschen Bundestag an, wo er sich als Mediensprecher seiner Partei und als Wegbereiter des Privatfernsehens einen Namen machte. Außerdem nahm er Führungspositionen in der PR-Branche in Hessen wahr. Weirich, der sich selbst als “liberalkonservativen Streiter” sieht, gilt als ebenso unabhängig wie konfliktfreudig.

 

 

 

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