Neues Vertrauen nur durch Neuwahl

Dieter Weirich

Als bei der mit der Bundestagswahl verbundenen Landtagswahl in Berlin am 26. September des vergangenen Jahres die ersten Prognosen und Hochrechnungen mit dem Erfolg der SPD bereits über die Bildschirme flimmerten, hatten in der Hauptstadt noch zahlreiche Wahllokale geöffnet. Die in der Geschichte der Bundesrepublik einmalige Pannenwahl war insgesamt begleitet von langen Wartezeiten vor den Wahllokalen, weil teilweise Stimmzettel fehlten oder falsche Formulare den Bürgern zugemutet wurden.

Bundeswahlleiter Georg Thiel sprach damals nach einer Untersuchung von einem „kompletten systemischen Versagen“. Für die Bundestagswahl sah er die Notwendigkeit von Nachwahlen in der Hälfte der zwölf Wahlkreise. Seit dem 28. September verhandelt nun der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin über die Einsprüche zur Gültigkeit der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksparlamenten. Es erscheint unvorstellbar, dass das die freie und geheime Wahl beeinträchtigende Organisations-Chaos ohne juristische Folgen bleiben kann.

Eine Experten-Kommission des Berliner Senats hat sich mit dem Wahl-Debakel bereits befasst und von „absehbaren und vermeidbaren“ Pannen gesprochen. Kopfschütteln hatte vor allem die Entscheidung ausgelöst, den Berlin-Marathon am Tag der Wahl abzuhalten, was zu logistischen Problemen in Wahllokalen geführt hat. Bei der Aufarbeitung der Schuld finden sich – wie üblich in Berlin – keine Verantwortlichen. Die Landeswahlleiterin ist zurückgetreten, von Innensenator Andreas Geisel (SPD) hätte man dasselbe erwarten können. Er habe aber nur die Rechtsaufsicht, nicht die Fachaufsicht, die Verantwortung dafür liege bei ehrenamtlichen Helfern, heißt es. Eine kuriose Argumentation.

Berlin hat sich wieder einmal international bis auf die Knochen blamiert. Schon gibt es den Ruf, nach internationalen Wahlbeobachtern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) bei etwaigen Neuwahlen. Wahlfälschungen wie einst bei Egon Krenz in der DDR braucht man im heutigen Berlin freilich nicht zu fürchten. Aber das Vertrauen der Stimmbürger kann nur mit einer vollständigen Wiederholung der total verkorksten Wahl wiederhergestellt werden Das müsste – ein entsprechender Urteilspruch vorausgesetzt – innerhalb von neunzig Tagen geschehen. Also wahrscheinlich im Frühjahr 2023.

 

Dieter Weirich (Jg. 1944), gelernter Journalist, kommentiert jede Woche mit spitzer Feder seine Sicht auf das aktuelle Geschehen in rantlos; mit freundlicher Genehmigung der “Zeitungsgruppe Ostfriesland (ZGO)”. Weirich war von 1989 bis 2001 Intendant des deutschen Auslandsrundfunks Deutsche Welle. Zuvor gehörte er eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Abgeordneter dem Hessischen Landtag und dem Deutschen Bundestag an, wo er sich als Mediensprecher seiner Partei und als Wegbereiter des Privatfernsehens einen Namen machte. Außerdem nahm er Führungspositionen in der PR-Branche in Hessen wahr. Weirich, der sich selbst als “liberalkonservativen Streiter” sieht, gilt als ebenso unabhängig wie konfliktfreudig.s müsste – ein entsprechender Urteilspruch vorausgesetzt – innerhalb von neunzig Tagen geschehen. Also wahrscheinlich im Frühjahr 2023.

 

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