Die tägliche Kassandra

Dieter Weirich

Betrachtet man sich die spätsommerlichen Erregungskurven in Politik und Medien, dann muss man dem erfreulich gelassenen Kabarettisten und Schauspieler Harald Schmidt recht geben. Er sieht ein ständiges „Hochkochen“ der zu erwartenden Gasknappheit, als stünde Deutschland kurz vor dem Abgrund. „Dabei geht es uns im Vergleich mit anderen Ländern prima“, stellt der kluge Schwabe fest.

Die Panikmache hat viel mit der unterirdischen Krisenkommunikation der „Ampel“-Koalition zu tun. Mit den ständigen Warnungen vor sozialen Unruhen, den mahnenden Hinweisen auf die „Gelbwesten“ in Frankreich, möglichen Reaktionen der „Wutbürger“ wird die Krise geradezu herbeigeredet und -geschrieben.

Kassandra vom Dienst ist Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), die – ohne konkrete Hinweise – abwechselnd entweder vor Attacken auf Gasterminals warnt, Cyberattacken befürchtet oder Rechtsextremisten und Reichsbürger als “größte Gefahr für die Menschen im ganzen Land“ entdeckt und damit Ängste schürt. Inzwischen hat sie auch die von ihr sonst gern übersehenen Linksradikalen als Gefahr ausgemacht. Diese versuchten, „Klimaproteste zu instrumentalisieren“.

Die täglichen Kassandrarufe werden abgemildert durch die (einen paternalistischen Klang tragenden) Zusicherungen des Bundeskanzlers, niemand werde allein gelassen, und man werde sich „unterhaken“. Wer allerdings vor allem mit Hilfe rechnen darf, da bleibt der Regierungschef freilich vage.           

Gute Krisenkommunikation verlangt vor allem Klarheit in der Zielsetzung und Führung. Vertrauen ist das wichtigste Kapital, das Regierende in solchen Zeiten besitzen müssen. Tatsächlich aber gleichen die „Drei von der Zankstelle“ einer Selbsterfahrungswerkstatt mit gebetsmühlenartig vorgetragenen Wiederholungen der reinen Lehre aus ihren unterschiedlichen Parteiprogrammen. Das angeblich so befruchtende Experiment der Symbiose von liberaler und ökologischer Politik ist schon vor seinem Start gescheitert. Moderator Olaf Scholz steht hilflos daneben.

Wie wäre es mit einem Blick in das Werk des Schweizer Schriftstellers Max Frisch. Krise sei ein „produktiver Zustand“, meinte der und fügte hinzu: „Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.

 

Dieter Weirich (Jg. 1944), gelernter Journalist, kommentiert jede Woche mit spitzer Feder seine Sicht auf das aktuelle Geschehen in rantlos; mit freundlicher Genehmigung der “Zeitungsgruppe Ostfriesland (ZGO)”. Weirich war von 1989 bis 2001 Intendant des deutschen Auslandsrundfunks Deutsche Welle. Zuvor gehörte er eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Abgeordneter dem Hessischen Landtag und dem Deutschen Bundestag an, wo er sich als Mediensprecher seiner Partei und als Wegbereiter des Privatfernsehens einen Namen machte. Außerdem nahm er Führungspositionen in der PR-Branche in Hessen wahr. Weirich, der sich selbst als “liberalkonservativen Streiter” sieht, gilt als ebenso unabhängig wie konfliktfreudig.

 

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