Weirichs Klare Kante
Flucht aus der Realität

Betrachtet man die stetig wachsende Zahl der Sondervermögen, ist Deutschland eine „vermögende“ Republik. 27 Konstrukte dieser Art mit einer rechtlichen Sonderstellung gibt es inzwischen, laut Wörterbuch „gesonderte Teile des Bundesvermögens, die ausschließlich zur Erfüllung einzelner begrenzter Aufgaben bestimmt sind und daher getrennt von dem sonstigen Bundesvermögen verwaltet werden“.
Ob es um das Klima, die Flut- oder Corona-Opfer oder die Digitalisierung in den Schulen geht, 132 Milliarden Euro versteckt der Finanzminister in diesen Lizenzen zum Schuldenmachen, die eine gnädige haushaltsrechtliche Semantik „Sondervermögen“ nennt. 100 weitere Milliarden kommen schon bald durch die Aufrüstung der Bundeswehr in der „Zeitenwende“ hinzu.
Wie praktisch für den Finanzminister, der ohne zu erröten, Stabilitäts-Parolen von sich gibt. Bei vier dieser Sondervermögen hat er sogar das Recht auf weitere Kreditaufnahmen. Außerdem werden die riesigen Summen nicht auf die Schuldenbremse in der Verfassung oder das Defizit-Kriterium in den europäischen Verträgen von Maastricht angerechnet.
Hatte der freidemokratische Finanzminister Christian Lindner vor der Wahl nicht Mäßigung bei den Schulden und Erleichterung bei den Steuern versprochen? Jetzt werden staatliche Leistungen außerhalb des regulären Haushalts ausgeweitet. Einen Tilgungsplan bleibt die neue Regierung schuldig. Gleichzeitig kündigt der Minister an, im kommenden Haushaltsjahr die Schuldenbremse wieder einzuhalten, was Zweifel an seiner Seriosität aufkommen lässt.
Sondervermögen sind eine Art Droge. Sie ermöglichen die bequeme Flucht aus der Realität. „Opium für das Volk“ nannte der Präsident des Bundes der Steuerzahler, Reiner Holznagel, diese unverantwortliche Form der Finanzpolitik.
In einer alternden Republik, deren größtes Problem die Bewältigung der demographischen Probleme sein wird, ist die Übertragung solcher Lasten auf kommende Generationen kaum verantwortbar. Hatten sich nicht sowohl die FDP wie auch die Grünen gerühmt, bei der Bundestagswahl die meisten jungen Wähler erhalten zu haben und die Parteien der Zukunft zu sein. Wer für junge Wähler attraktiv sein will, darf ihnen aber solche Lasten nicht aufbürden.
Dieter Weirich (Jg. 1944), gelernter Journalist, kommentiert jede Woche mit spitzer Feder seine Sicht auf das aktuelle Geschehen in rantlos; mit freundlicher Genehmigung der “Zeitungsgruppe Ostfriesland (ZGO)”. Weirich war von 1989 bis 2001 Intendant des deutschen Auslandsrundfunks Deutsche Welle. Zuvor gehörte er eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Abgeordneter dem Hessischen Landtag und dem Deutschen Bundestag an, wo er sich als Mediensprecher seiner Partei und als Wegbereiter des Privatfernsehens einen Namen machte. Außerdem nahm er Führungspositionen in der PR-Branche in Hessen wahr. Weirich, der sich selbst als “liberalkonservativen Streiter” sieht, gilt als ebenso unabhängig wie konfliktfreudig.
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