Weirichs Klare Kante
Testfall Europa

Mit Beginn des neuen Jahres hat die französische Regierung die sechs Monate dauernde Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union übernommen. Ein halbes Jahr wird Paris nun versuchen, neue Akzente in der europäischen Finanz- und Sicherheitspolitik, vor allem aber bei der Migration zu setzen. So sollen der gemeinsame Migrationspakt vorangebracht und die Asylregeln harmonisiert werden, um eine gerechtere Verteilung der Zuwanderer zu erreichen.
Das in den jüngsten Jahren stärker nach rechts gerückte Frankreich gibt sich bei der Abwehr von „Wirtschaftsasylanten“ härter und entschlossener als, zum Beispiel, Deutschland. Die Außengrenzen sollen nach Ansicht der französischen Regierung stärker geschützt werden, im Krisenfall sollten die Vertrags-Länder des so genannten Schengener Abkommens Sicherheitskräfte entsenden. Der Aktionskatalog der Berliner Ampel-Koalition bleibt bei dieser Frage im Ungefähren.
Für deutsch-französischen Ärger dürfte jedoch vor allem der Wunsch von Präsident Macron sorgen, die Kernkraft als „grüne Energie“ europäisch fördern zu lassen, was das auf erneuerbare Energien ausgerichtete Berlin als Kampfansage begreifen muss. Paris hat freilich als ein Motor der Nuklearenergie viele internationale Mitstreiter. Macron investiert mehr als 1 Milliarde Euro in den Ausbau der Atomkraft und sieht darin auch eines seiner zentralen Versprechen im Kampf gegen den Klimawandel.
Zu unterschiedlichen Betrachtungen könnte es auch bei der französischen Forderung nach einem Ausbau der militärischen Fähigkeiten und einem starken Europa in der Welt kommen. Dabei geht es nach Auffassung von Paris um „neue Konflikträume“ – etwa die Weltmeere, das Weltall und die Cyberwelt.
Wie weit die deutsche Ampel-Koalition bereit ist, die strengen Finanzkriterien von Maastricht zu Haushaltsrichtlinien aufzugeben, wird man sehen. Einigkeit besteht, die Investitionen in Klimaschutz, Digitalisierung und Verteidigung voranzutreiben. Ob aber die Bestimmungen zur Gesamtschuldenlast der Wirtschaftsleistung (wie von Frankreich und den südeuropäischen Ländern gefordert) einfach ad acta gelegt werden, wird zu einem Test für die Glaubwürdigkeit des neuen deutschen Finanzministers.
Von den innigen Solidaritätsbekundungen beim Antrittsbesuch von Kanzler Scholz bei Präsident Macron dürfte es in der Praxis ganz sicher Abstriche geben. Und außerdem: Wahlhilfe für Macron, dessen Wiederwahl unsicher ist, verbietet sich von selbst.
Dieter Weirich (Jg. 1944), gelernter Journalist, kommentiert jede Woche mit spitzer Feder seine Sicht auf das aktuelle Geschehen in rantlos; mit freundlicher Genehmigung der “Zeitungsgruppe Ostfriesland (ZGO)”. Weirich war von 1989 bis 2001 Intendant des deutschen Auslandsrundfunks Deutsche Welle. Zuvor gehörte er eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Abgeordneter dem Hessischen Landtag und dem Deutschen Bundestag an, wo er sich als Mediensprecher seiner Partei und als Wegbereiter des Privatfernsehens einen Namen machte. Außerdem nahm er Führungspositionen in der PR-Branche in Hessen wahr. Weirich, der sich selbst als „liberalkonservativen Streiter” sieht, gilt als ebenso unabhängig wie konfliktfreudig.
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