Autor Dieter Weirich

„Fromme Formel“
Von Dieter Weirich

„Erst das Land, dann die Partei“. Diese politisch fromme Formel, für die Willy Brandt das Urheberrecht geltend machen kann, werden wir in den nächsten Wochen bei den Verhandlungen über eine neue Bundesregierung noch öfter hören. Das selbstlos und uneigennützig klingende Bekenntnis ist allerdings eine auf die aktuelle Politik bezogene Abwandlung der berühmten Beschreibung eines Staatsmanns durch den ehemaligen britischen Premier William Edwart Gladstone aus dem neunzehnten Jahrhundert. Der Politiker denke an die nächste Wahl, der Staatsmann an die nächste Generation, schrieb er.
Die Überhöhung des eigenen Karrierestrebens als verantwortlichen Dienst am Land ist zu einem Klischee verkommen. Geradezu erfrischend war deshalb der in die Geschichte eingegangene Ausruf der früheren schleswig-holsteinischen Ministerpräsidentin Heide Simonis nach einem viermaligen „Abschuss“ bei ihrer Wahl zur Regierungschefin durch einen bis heute unbekannten Koalitionär: „Und was wird jetzt aus mir“.
Dass es ums Land, um Parteien, aber vor allem auch um Personen geht, zeigt die hurtig dementierte (angebliche) Absprache um den Vizekanzler in spe, Robert Habeck, bei den Grünen. Ausgerechnet die Partei, die vorgibt, nur auf die Sache (nämlich das Klima) und damit das Überleben unserer Kinder und Enkel konzentriert zu sein, schien als erste das Fell des Bären zerteilen zu wollen, bevor dieser erlegt ist. Dabei ist das Amt des Vizekanzlers in der deurtschen Verfassung gar nicht vorgesehen. Es geht wohl darum, dem künftigen Koalitionspartner FDP zeigen zu wollen, wer bei den Wahlen stärker war.
Es macht sich natürlich immer gut, nur die Sache und das Programm im Auge zu haben. In Wirklichkeit ist bei allen Parteien die Leidenschaft beim Postenschacher ausgeprägt. Natürlich ziert es sich nicht, nach einer Wahl sofort übers Personal zu reden. Die Devise heißt: „Immer daran denken, nicht darüber reden“.
Ein Politiker ohne Machtanspruch hat ohnehin seinen Beruf verfehlt. Kanzlerin Merkel, unprätentiös und bescheiden in ihrem Habitus, stand in der Kälte ihrer persönlichen Machtdemonstration ihrem Vorgänger Helmut Kohl nicht nach. Was sie im Gegensatz zu „Macho-Kanzler“ Gerhard Schröder aber gut verbergen konnte, war ihre Eitelkeit.
Dieter Weirich (Jg. 1944), gelernter Journalist, kommentiert immer donnerstags mit spitzer Feder seine Sicht auf das aktuelle Geschehen in rantlos; mit freundlicher Genehmigung der “Zeitungsgruppe Ostfriesland (ZGO)”. Weirich war von 1989 bis 2001 Intendant des deutschen Auslandsrundfunks Deutsche Welle. Zuvor gehörte er eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Abgeordneter dem Hessischen Landtag und dem Deutschen Bundestag an, wo er sich als Mediensprecher seiner Partei und als Wegbereiter des Privatfernsehens einen Namen machte. Außerdem nahm er Führungspositionen in der PR-Branche in Hessen wahr. Weirich, der sich selbst “als liberalkonservativen Streiter” sieht, gilt als ebenso unabhängig wie konfliktfreudig. 

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