Weirichs Klare Kante
Ein starkes Signal

Selten waren sich die Deutschen so uneins über Parteien und Kanzlerkandidaten wie bei der jüngsten Bundestagswahl. In einer Frage allerdings gab es schon vor der Abstimmung einen zwei Drittel der Bürger umfassenden Konsens. Der Deutsche Bundestag war nach Auffassung des Wahlvolks schon vor dem Wahltag zu groß. Nachdem aber das Parlament nun noch einmal von 709 auf 735 Mandatsträger angewachsen ist, gilt dieser Einwand erst recht.
Damit ist die deutsche Volksvertretung das zahlenmäßig größte, frei gewählte Parlament der Welt. Nur der Chinesische Volkskongress ist noch größer, seine Mitglieder werden freilich durch die Pekinger Machthaber bestimmt.
Eigentlich soll sich das Hohe Haus in Berlin aus 598 Abgeordneten zusammensetzen. Die Aufblähung hängt mit einem komplizierten Wahlsystem zusammen, der „personalisierten Verhältniswahl“. Eine bei den vorigen Wahlen immer mehr gestiegenen Zahl von Überhang- und Ausgleichsmandaten muss – aus Gründen einer angenommenen Gerechtigkeit – mit Direktmandaten verrechnet werden. Einige Auguren sahen schon mehr als 800 Abgeordnete im Anmarsch. Ein Orakel, das sich zum Glück nicht bestätigt hat.
Alle Bundestagsfraktionen und auch das Bundesverfassungsgericht wissen, dass eine mit einer Wahlrechtsreform verbundene Verkleinerung des Bundestages ein Gebot der Stunde ist. Eine kurz vor der Wahl als Pflichtübung verabschiedete Mini-Reform der Großen Koalition hat in dieser Richtung nichts gebracht.
Schon Ende der neunziger Jahre hatte eine Kommission festgestellt, dass alles, was über 600 Mandate hinausgehe, dem Parlamentarismus schade. So werde die Arbeitsfähigkeit der Ausschüsse und Arbeitskreise eingeschränkt, der Wissenschaftliche Dienst überfordert, von den explodierenden Kosten für den Steuerzahler ganz zu schweigen.
Von allen Akteuren wird im Augenblick die Bereitschaft zu weitreichenden Neuordnungen beschworen. Wie wäre es, wenn jetzt – vor dem Abschluss von Koalitionsvereinbarungen – ein interfraktionellen Konsens für eine von allen Parteien getragene Wahlrechtsreform gefunden würde? Sehr her, wir, die neu gewählten Parlamentarier, stellen uns glaubwürdig selbst zur Disposition! Das wäre ein starkes Signal des neuen Deutschen Bundestages.
Dieter Weirich (Jg. 1944), gelernter Journalist, kommentiert immer donnerstags mit spitzer Feder seine Sicht auf das aktuelle Geschehen in rantlos; mit freundlicher Genehmigung der “Zeitungsgruppe Ostfriesland (ZGO)”. Weirich war von 1989 bis 2001 Intendant des deutschen Auslandsrundfunks Deutsche Welle. Zuvor gehörte er eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Abgeordneter dem Hessischen Landtag und dem Deutschen Bundestag an, wo er sich als Mediensprecher seiner Partei und als Wegbereiter des Privatfernsehens einen Namen machte. Außerdem nahm er Führungspositionen in der PR-Branche in Hessen wahr. Weirich, der sich selbst “als liberalkonservativen Streiter” sieht, gilt als ebenso unabhängig wie konfliktfreudig.
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