Offene liberale Flanke

Autor Dieter Weirich

Der legendäre SPD-Bundestagsfraktionschef Herbert Wehner beschimpfte sie 1969 als „alte Pendlerpartei“, bevor seine Genossen mit ihr zu einer sozialliberalen Koalition aufbrachen. Daraufhin wollte sie der abgewählte christdemokratische Kanzler Kurt Georg Kiesinger aus den Parlamenten “hinauskatapultieren“. In den ersten drei Jahrzehnten der Nachkriegszeit war die FDP immer die dritte Kraft im Deutschen Bundestag, hatte das Schicksal von Regierungsbildungen in der Hand, wurde nicht selten von den Volksparteien unschön als „Wurmfortsatz“ des politischen Gegners denunziert.

Es hat wirklich schon Tradition: Immer wenn der FDP von der politischen Konkurrenz allzu vernehmlich das Sterbeglöcklein gebimmelt wurde, entwickelten die Freien Demokraten neue Lebenskraft. Als Funktionspartei erzielten sie – zwar mit wenig Stammkunden, dafür aber mit reichlich Laufkundschaft – überall dort, wo sie gebraucht wurden, Erfolge. Ihre Basis waren die taktischen Wähler, die mit ihrer Entscheidung Schicksal spielen wollten.

Die Bedeutung dieser Rolle auf der politischen Bühne nahm mit dem vom Schwund der Volksparteien begleiteten Erfolg der Grünen, die inzwischen in elf Bundesländern mitregieren, ab. Bei der vorigen Bundestagswahl verpasste die FDP die Chance auf eine Beteiligung an einem Regierungswechsel zusammen mit der CDU und der Ökopartei in einer „Jamaika-Koalition“.  Die Entscheidung nach abrupt abgebrochenen Koalitionsverhandlungen dürfte FDP-Chef Christian Lindner inzwischen mehr als einmal bereut haben.

Jetzt will die FDP bei der Bundestagswahl am 26.September wieder Regierungspartei werden. In den Umfragen ist sie im Aufwind. Dafür gibt es viele Gründe. In der Corona-Pandemie vertrat sie einen maßvollen, die Freiheitsrechte der Bürger achtenden Kurs. Ihr Wahlprogramm ist marktwirtschaftlicher, zukunftsfroher und moderner als das der Union, deren Kanzlerkandidat Armin Laschet das Hoch der FDP mitbefeuert. Mit Johannes Vogel, Konstantin Kuhle, Marco Buschmann, aber auch der früheren FSP-Generalsekretärin Linda Teuteberg hat Lindner ministrable Persönlichkeiten um sich.

Dennoch hat er ein großes strategisches Manko, weil er sich in der Koalitionsfrage nicht festlegt. Ob er mit der Union und den Grünen oder mit der SPD und den Ökos in eine Ehe einwilligen wird, lässt er offen. Diese Flanke sollte er schließen. Dass er der Spitzenkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, ins Kanzleramt verhelfen wird, hat er allerdings inzwischen so gut wie ausgeschlossen. Nicht erst bei der Diskussion über den Lebenslauf der grünen Vorzeige-Dame hat er gemerkt, dass die Deutschen den Marsch der „Generation Praktikum“ direkt ins Kanzleramt offenkundig ablehnen

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