Von Günter Müchler

Günter Müchler

Ein Jahr nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine tun sich für Europa zwei Szenarien auf, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Die Liste der Großbaustellen ist lang: Der neuen Flutwelle der Migration steht die EU wieder rat- und steuerlos gegenüber. Der industriepolitische Subventionswettlauf, der gerade eingesetzt hat, belastet zudem die transatlantischen Beziehungen und stellt die Gemeinschaft selbst vor eine Zerreißprobe. Das düstere Tableau wird vervollständigt durch die Phantasielosigkeit des deutsch-französischen Tandems, die Schleifspuren des unbewältigten Brexits und die Hängepartie um die Aufnahme der Westbalkanstaaten.

Ungelöste Probleme, so weit das Auge reicht. Und da ist natürlich zuvorderst der schreckliche Krieg im Osten des Kontinents. Aber ausgerechnet dieser Krieg gibt der Hoffnung eine Chance. Vorausgesetzt, Putin verliert ihn, könnte er die Gemeinschaft aus dem Tal der Tristesse herauskatapultieren und zu einem Neustart führen für die Vereinigten Staaten von Europa.

Europa hat zahlreiche Krisen gekannt. Sie sind sein Schatten, und wer den Peter Schlemihl gelesen hat, weiß, dass man seinen Schatten braucht; er gehört einfach zum Leben. Von Jean Monnet stammt das Wort, Europa sei aus der Krise geboren worden, Krisen hätten Europa stets stark gemacht. Adenauer und Schuman, de Gasperi und Spaak und mit Sicherheit auch de Gaulle waren Visionäre, allerdings der realistischen Observanz. Sie surften nach dem Krieg nicht auf einer plötzlich ausgebrochene Woge der Feindesliebe. Vielmehr errichten sie ihr Projekt auf der nüchternen Erkenntnis, dass es besser wäre, sich zusammenzuschließen als weiter aufeinander zu schießen.  Adenauer und de Gaulle betrachteten Europa als Schicksalsgemeinschaft. Dieses Bewusstsein trieb sie an. Es trieb auch Kohl und Mitterrand an, als Europa nach 1989 abermals mitten in einer Krise steckte, einer Bewährungskrise, die durch mutige Entscheidungen wie die Einführung der gemeinsamen Währung, bestanden wurde.

Danach kam dann wenig. Zumindest wenig, was den Menschen unter die Haut ging. Die Grenzen waren offen, auf den Münzen stand Euro, mit dem deutsch-französischen Fernsehsender ARTE war ein einzigartiger Scheinwerfer des gemeinsamen Kulturraums geschaffen. Als hätten diese Großtaten die ganze Lebenskraft verbraucht, ist den Europäern seither nichts Vergleichbares eingefallen. Das viele Kleinklein und die Bewahrung des Erreichten sollte man nicht gewiss unterbewerten. Aber auch die beste Verwaltung strahlt keinen Glanz aus.

Die deutsch-französischen Beziehungen schliefen ein. Bekenntnisse kamen zunehmend glatt über die Lippen. Gerhard Schröder, der auf Helmut Kohl folgte, erklärte in gewollter Absetzung von seinem Vorgänger, für seine Generation müsse Europa sich rechnen. Utilitarismus statt Vision und Erinnerung: Auch die Merkel-Jahre waren für Europa vertane Jahre, vor allem für das „couple franco-allemand“. Die Kanzlerin aus dem Osten war gut im Reparaturbetrieb. Initiativen hingegen gingen von ihr nicht aus. Und kamen sie von anderer Seite, ließ sie sie ins Leere laufen. Emmanuel Macron, der liberalste und am meisten europäisch denkende französische Präsident seit Giscard d‘Estaing, prallte mit seiner Sorbonne-Rede von 2017 an Berliner Bräsigkeit ab. Unter Olaf Scholz änderte sich nichts. Das „Scholzing“, eine Mischmethode aus Unverbindlichkeit und Alleingängen, weckte in Paris alte Besorgnisse der „incertitudes allemandes“.

Im November vorigen Jahres äußerte Jacques Attali, noch in diesem Jahrhundert sei ein neuer deutsch-französischer Krieg denkbar. Nun kennt man den ehemaligen Mitterrand-Berater als schrille, selbstverliebte Kassandra, aber in einem Punkt hat er Recht: Die deutsch-französische Freundschaft droht zum Möbelstück zu werden; zu einem Sessel, den man in Ehren hält, der aber irgendwann wegen Altersschwäche in der Abstellkammer landet.

Man muss wachsam sein. Nichts auf dieser Welt ist unverlierbarer Besitz. Wir dachten, wir könnten elementare Aufgaben der Daseinsfürsorge wie den Schutz vor Kälte in unseren Breiten abhaken. Inzwischen starrt die Nation nervös auf den Füllstand der Gasspeicher. Wir dachten, Krieg sei etwas, das ausschließlich am anderen Ende des Globus passiert. Jetzt haben wir einen Krieg direkt vor der Haustür.

Die Ereignisse unter der Chiffre 24. 2. 2022 könnten im produktiven Sinn eine Ent-Täuschung sein. Eine Wunschvorstellung ist geplatzt. Europa hat den Schuss gehört. Es klingt paradox: Putin weist den Weg. Die militärische Hilfe für die Ukraine ist europäische Selbsthilfe. Denn Europa weiß sich herausgefordert. Der Neo-Imperialist im Kreml hat geglaubt, er könne die Union auseinanderdividieren.  Das ist ihm nicht gelungen. Stattdessen hat er der erreicht, dass sich die Wohlfühl-Mentalität, die lange die Politik in den europäischen Hauptstädten dominierte hat, mehr und mehr verflüchtigt. Zugleich hat er seine Sympathisanten in den rechtspopulistischen Parten des Kontinents geschwächt. Wer – wie die deutsche AfD – an der Fiktion festhält, es ließen sich deutsche Interessen mit mehr Nationalismus und weniger Europa meistern, muss den Verstand verloren haben.

Die Chance der Ent-Täuschung ergreifen heißt für die Europäer, Abschied zu nehmen vom Verwaltungsmodus. Die von der schieren Notwendigkeit diktierten Ziele, sind anspruchsvoll: Die Ukraine muss instandgesetzt werden, den Krieg so fortzuführen, dass am Ende ein Frieden steht, der den ukrainischen und den europäischen Interessen entspricht. Die EU-Beitrittsperspektive für die Ukraine der Nachkriegszeit muss glaubhaft sein. Die Handlungsfähigkeit Europas muss durch institutionelle Reformen gestärkt werden. Dies alles muss geschehen in dem Bewusstsein, dass Europa eine Schicksalsgemeinschaft ist. Das ginge natürlich am besten durch die Schaffung einer Europa-Armee.

 

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

 

  

 

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