Von Wolfgang Bergsdorf

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 Vor 32 Jahren konnten die Deutschen zum ersten Mal ihren Nationalfeiertag begehen. Am Abend vor dem 3. Oktober 1990 herrschte bei den hunderttausend Menschen vor dem Berliner Reichstag eine ausgelassene optimistische Stimmung, von der auch die auf den Stufen des Gebäudes stehenden Politiker Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, Richard von Weizsäcker, Willy Brandt und Lothar de Maiziere sich anstecken ließen. Als das mitternächtliche Feuerwerk und die Nationalhymne den ersten Tag der deutschen Einheit markierten, flossen Ströme von Freudentränen, aber auch manche Zähre des Bedauerns über das Verschwinden eines Staates, mit dem man groß geworden war.

In den 32 Jahren seitdem haben wir im nun vereinten Deutschland lernen müssen, mit den Nah- und Fernwirkungen der DDR-Diktatur umzugehen. Vor allen haben wir miteinander erfahren müssen, dass eine Zwangsherrschaft wie die DDR nicht wie ein Hemd abgelegt werden kann – vor allem dann nicht, wenn in diesem Teil unseres Landes die 1933 von Adolf Hitler und den Nazis etablierte Diktatur zwar 1945 ihre Farbe von braun auf rot wechselte, nicht aber den Zwangscharakter des Regimes, der mehr als ein halbes Jahrhundert den dortigen Menschen ihre Bürger- und Menschenrechte verweigerte. Seit 1961 hatte die Mauer die Menschen zusätzlich eingesperrt. Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl haben fast 327 Leben gekostet. Die faktische Einparteienherrschaft der SED sollte Start und Vollendung des Sozialismus bezwecken und führte zur Drangsalierung der Bevölkerung durch die allgegenwärtigen „Stasi“ dirigiert vom Ministerium für Staatssicherheit, und zu einer immer katastrophaleren wirtschaftlichen Lage.

Volle Gefängnisse und Wahlbetrug

Die Gefängnisse der DDR (wahrlich keine Erholungszentren) waren voll von „politischen“ Sträflingen, oft wegen versuchter Republikflucht oder auch bloß unerlaubter politischen Äußerungen oder Aktionen verurteilt. Viele davon wurden von der Bundesrepublik Deutschland „freigekauft“. All dies machte es wahrscheinlich, dass die angestaute Frustration sich entlud, wenn der Druck der Repression nachlässt. Der 7. Mai 1989 war ein Datum, das die politische Frustration deutlich anschwellen ließ. Damals gelang es den oppositionellen Kräften erstmals, den auch bei den Kommunalwahlen üblichen Wahlbetrug zu dokumentieren.

Denn ein Jeder wusste in der DDR, dass es bei den Wahlen nicht um die Auswahl von Personen ging, hinter denen auch die Bürger standen, sondern um reine Akklamation für das von der SED festgelegte Personal. Die Oppositionellen waren damals so klug, in möglichst allen Wahllokalen bei der öffentlichen Auszählung präsent zu sein und konnte so die tatsächlichen mit den veröffentlichten Zahlen vergleichen. Denn auch nach DDR-Recht war die Fälschung von Wahlergebnissen strafbar und wurde mit bis zu 3 Jahren Haft bedroht.

Die frustrierte Stimmung der Bevölkerung spürte wohl auch der sowjetische Generalsekretär Gorbatschow, als er am 7. Oktober 1989 zum 40. Geburtstag der DDR nach Ostberlin kam und beiläufig die Formulierung wählte: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Zuvor hat der gleiche Politiker die von seinem Vorgänger Breschnew formulierte Doktrin gleichsam unbemerkt verabschiedete, nach der die Sowjetunion allen Ostblockländern militärisch „zu Hilfe kommen“ würde, wenn deren sozialistische Substanz von der eigenen Bevölkerung in Frage gestellt werden sollte.

Alle Hauptakteure gestorben

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Mittlerweile sind die Hauptakteure des deutschen Einigungsprozesses gestorben: Willy Brandt und Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, und Richard von Weizsäcker. Das gilt auch für die wichtigsten Verantwortlichen im Ausland: George Bush, Francois Mitterand und Michael Gorbatschow. Der jüngst verstorbene letzte Staatspräsident der Sowjetunion wurde in Deutschland als wesentlichster Ermöglicher der deutschen Einheit gewürdigt. Für den aktuellen russischen Präsidenten – Wladimir Putin – hingegen war er ein Verderber, der das sowjetische Imperium zum Einsturz brachte. Diesen Vorgang zurück zu spulen, ist denn auch das vordringlichste Motiv im Handeln des russischen Diktators, das ihn zum Angriffskrieg gegen die Ukraine bewogen hat. Gorbatschow hatte noch vor seinem Tod diesen Krieg kritisiert. Das dürfte der Grund dafür gewesen sein, dass ihm ein Staatsbegräbnis verweigert wurde.

Der Start zu dieser Aggression am 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende, die jedermann deutlich macht, dass Putin eine neue Weltordnung anstrebt. Nicht die Stärke des Rechts soll das Geschehen bestimmen, sondern das Recht des Stärkeren. Was vor 32 Jahren gelang, nämlich durch Vertrauen von Staatsmännern viele Kompromisse zu schließen, um die Wiedervereinigung Deutschlands zu erreichen und die Spaltung Europas zu überwinden, wäre heute gewiss nicht mehr möglich. Denn mittlerweile leben wir in einer Welt, in der die imperialistischen Ambitionen eines mächtigen Nuklearstaates jede Vereinbarung, jedes Abkommen, jeden Vertrag nichtig machen können.

Anerkennung als voller Souverän

Damals war dies glücklicherweise anders. Nach dem Tag der deutschen Einheit war es die fraglos größte Herausforderung für die Überzeugungsarbeit der damaligen Bundesregierung, die inländischen, vor allem aber die ausländischen Befürchtungen über negative Folgen des deutschen Einigungsprozesses für die Stabilität in Europa zu entkräften. Das wiedervereinigte Deutschland mit rund 80 Millionen Bürgern, seiner Wirtschaftkraft, seinem gewachsenen politischen Gewicht, seiner historischen Hypothek und seiner nun wiedererlangten vollen Souveränität hat verständlicherweise Ängste über seinen zukünftigen Kurs ausgelöst.

Im Zentrum der Kommunikationsarbeit der Bundesregierung stand deshalb das Vertrauen, das sich die Bonner Demokratie in den davor liegenden 40 Jahren als zuverlässiger und berechenbarer Partner erworben hatte. Der Bundeskanzler, der Bundesaußenminister und mit ihnen die gesamte Regierung sowie die sie tragenden politischen Kräfte durften und konnten nicht müde werden mit dem Argument, dass die Überwindung der deutschen Teilung als Überwindung der Spaltung Europas zu verstehen sei und dass die deutsche Einigung sowie der europäische Integrationsprozess zwei Seiten der gleichen Medaille darstellten.

Der große historische Unterschied

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Weil die Europäer ein gutes Gedächtnis haben, galt es, in allen formellen und informellen Gesprächen die grundsätzlichen Unterschiede der deutschen Einigung von 1990 und der von 1871 zu verdeutlichen:

  1. Damals war die Einigung ein „von oben“ verordneter Vorgang, auch wenn sie von den Deutschen begrüßt wurde. 1990 hingegen war die Einheit das Ergebnis des bisher ersten erfolgreichen revolutionären Prozesses, der in Deutschland vom Volk selbst in Gang gesetzt wurde.
  2. 1871 kam es zur Reichsgründung nach Kriegen gegen Österreich (1866) und Frankreich (1870/71), heute ist die Einheit Folge der friedlichen Selbstbefreiung unserer Mitbürger in der damaligen DDR, deren mutige Massenmanifestationen die kommunistische Herrschaft zum Einsturz brachten.
  3. Vor mehr als einem Jahrhundert haben die europäischen Nachbarn Deutschlands die Einigung mit Skepsis bis Ablehnung verfolgt. Insbesondere der französische Verlust von Elsass-Lothringen hat die Rückgewinnung der verlorenen Gebiete zum Leitmotiv der französischen Außenpolitik und damit den deutsch-französischen Gegensatz zu einer festen Größe gemacht, mit der alle europäischen Mächte rechnen konnten und mussten. 1990 wurde die deutsche Einheit mit Zustimmung und Unterstützung aller Europäer verwirklicht worden, und die deutsch-französische Freundschaft wird zu Recht als Motor der europäischen Integration verstanden.
  4. Die Annexion Elsass-Lothringens hatte sich für die Außenpolitik des Deutschen Reiches geradezu als Fußfessel ausgewirkt. Die Verteidigung dieses Gebietes schränkte den Handlungsspielraum des Deutschen Reiches stark ein. 1990 dagegen verschaffte die Anerkennung aller bestehenden Grenzen einschließlich der Oder-Neiße-Linie durch das vereinte Deutschland einen zusätzlichen Handlungsspielraum, welcher der europäischen Integration zugute kam.
  5. Die Reichsgründung von 1871 brachte einen klassischen Nationalstaat in der Verfassung einer konstitutionellen Monarchie hervor, dem trotz aller Bekenntnisse Bismarcks von „Selbstgenügsamkeit“ immer ein imperialer Anspruch unterstellt wurde. Denn das deutsche Kaiserreich umfasste mehr als die deutsche Nation. Ganz anders das vereinte Deutschland des Jahres 1990. Es ist ein gemäßigt nationaler Staat in der Form einer bundesstaatlichen, parlamentarisch verfassten Republik. Sie ist bereit, einen wachsenden Teil ihrer nunmehr wieder vervollständigten Souveränität an die transnationalen Einrichtungen Europas abzugeben.
  6. 1871 hing die außenpolitische Zukunft des vereinten Deutschlands von der Fähigkeit und Bereitschaft seiner politischen Führung ab, Deutschland im Gleichgewicht der europäischen Großmächte Frankreich, England, Österreich-Ungarn und Russland zu halten. Die Ausbalancierung dieses Gleichgewichts führte immer wieder zu krisenhaften Entwicklungen und misslang dann schließlich endgültig, nachdem der Lotse Bismarck von Bord gegangen war. Heute ist das vereinte Deutschland fest verankert in der westlichen Werte-, Wirtschafts- und Verteidigungsgemeinschaft, die einen künftigen Sonderweg des 80-Millionen-Volkes absolut unmöglich macht. Das heutige Deutschland sieht seine Bestimmung in Europa, dessen Integration zur deutschen Staatsraison wird.
  7. Nach 1871 kam es in ganz Europa angesichts der Machtverschiebung durch die Reichsgründung zu einer das gesamte öffentliche Leben prägenden Militarisierung. Jetzt hingegen erlaubte die Überwindung des Ost-West-Konfliktes als Voraussetzung der deutschen Einheit wie der europäischen Einigung eine Demilitarisierung, wie sie quantitativ und qualitativ in der Geschichte ohne Vorbild war. Diese Friedensdividende ist leider spätestens seit dem Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine hinfällig geworden.

Im Visier: Die Demokratie

Die Zeitenwende vom Februar 2022 markiert die Notwendigkeit, neue und massive Anstrengungen zur Verteidigung zu unternehmen. Dies gilt nicht nur für Deutschland, sondern für alle Staaten der Europäischen Union und der NATO. Denn der russische Diktator hat die Demokratie als Staatsform der Freiheit, den Westen und seine pluralistische Kultur ins Visier genommen.

Prof. W. Bergsdorf

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinett“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt.  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

 

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