Von „Erbfeinden“ zu schwierigen besten Freunden
Der steinige Weg der Deutschen und Franzosen zueinander (1)
Von Günter Müchler
Produktiv waren die deutsch-französischen Beziehungen immer dann, wenn die politischen Chefs gut miteinander konnten. Stimmte die Wellenlänge nicht, gab es Flaute, und auch die europäischen Dinge gerieten ins Stocken. Ab jetzt en avant mit Olaf Scholz? Die Erwartungen sind gemischt, zumal noch keineswegs feststeht, wie Scholz‘ Pendant im Élysée demnächst heißen wird.
Da ist es beruhigend, die Partnerschaft auf solidem Grund zu wissen. Die Nachkommen von Galliern und Teutonen haben zum Glück gelernt, miteinander auszukommen. Hahnenkämpfe sind Vergangenheit. Die Regierungen stehen im Dauerkontakt. In den Grenzregionen wird gemeinsam geplant. Dass die erste Auslandsreise des neuen Bundeskanzlers nach Paris führte, war eine Selbstverständlichkeit. Und dennoch: Wer heute die Klangprobe macht, kommt an der Erkenntnis nicht vorbei, dass das deutsch-französische Duett schon mal besser spielte.
Das Jugendwerk stottert
Gewohnheitsabrieb macht sich bemerkbar. Das Deutsch-Französische Jugendwerk, einst eine überaus wirksame Beziehungsagentur, ist in die Jahre gekommen. Städtepartnerschaften leiden unter dem geriatrischen Gesetz. Der Deutschunterricht an den französischen Schulen ist auf dem absteigenden Ast. Umgekehrt gilt dasselbe. Insgesamt wirkt die deutsch-französische Partnerschaft wie eine alte Ehe – sie funktioniert, aber die Glücksmomente sind rar geworden.
Mit der Freundschaft, auch der zwischen Völkern, verhält es sich wie mit der Freiheit, die Heinrich Heine einst eine Gefängnisblume nannte. Man ersehnt, was man entbehrt. Was man hat, verliert seinen Glanz. Der zu beobachtende Abgang ins Rituelle erfasste die amitié franco-allemande in den Nullerjahren. Die Nachkriegsgeneration war jetzt an der Macht. Programmatisch erklärte der damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, die Partnerschaft mit den Franzosen – wie auch das europäische Projekt – müsse sich „rechnen“. Die Distanzierung von seinen Amtsvorgängern Helmut Kohl und Helmut Schmidt war gewollt.
Der Schrecken des Krieges
Dass Politik von Interessen geleitet wird, ist eine Binsenweisheit. Adenauer, Schumann, de Gasperi, Spaak oder de Gaulle waren ja keine Traumtänzer. Und doch hätten sie ihr Tun nie unter die simple Maxime von Soll und Haben gestellt. Die Schrecken des Krieges steckten ihnen noch in den Knochen. Europa war drauf und dran, sich für immer von der Weltbühne zu verabschieden. Wer das verhindern wollte, musste mit der national-egoistischen Politik der Vergangenheit brechen und aus der physischen und moralischen Trümmerlandschaft des Kontinents etwas Neues schaffen. Das Wissen darum verlieh der Nachkriegspolitik ein starkes Ethos.
Deutschland fiel der Bruch mit der Vergangenheit am leichtesten. Durch die Schuld am Krieg und an den jede Vorstellungskraft übersteigenden Verbrechen an den Juden besaßen die Deutschen nirgendwo mehr Kredit. Das Land war geteilt. Der 1949 gegründete westdeutsche Teilstaat stand unter alliierter Kuratel. An der Überlebensfähigkeit des demokratischen Experiments Bundesrepublik bestanden erhebliche Zweifel. Auf diesem schwankenden Boden traf Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler, zwei Grundentscheidungen: Westbindung und Aussöhnung mit Frankreich.
Der Schaukelkurs der SPD
Vor Adenauer standen Herkulesaufgaben. Er hatte es mit einer sperrigen Opposition zu tun. Die SPD suchte unter ihrem Vorsitzenden Kurt Schumacher das Heil in einem Schaukelkurs zwischen Ost und West. Hätte sie sich durchgesetzt, wäre Deutschlands „langer Weg nach Westen“ (der Historiker Heinrich August Winkler) vielleicht bis heute nicht an sein Ziel gelangt. Und die Versöhnung mit Frankreich: Sie wirkt in der Rückschau wie ein Wunder. Schließlich galt es, eine eingemeißelte Feindschaft zu überwinden. Der Mythos der „Erbfeindschaft“ war in Deutschland am Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden, als der aufkommende Nationalismus nach dem Einheitsstaat verlangte. Frankreich hatte in dem Vierteljahrhundert der Revolutionskriege gezeigt, wozu die nation une et indivisible – eine einige und unteilbare Nation – imstande war. Stark wie Frankreich zu werden, glaubte man nur in der Konfrontation mit den Nachbarn erreichen zu können.
Intellektuelle definierten Deutsche und Franzosen als wesenhaft voneinander unterschieden. Der 1860 in Bonn verstorbene Dichter und Historiker Ernst Moritz Arndt erklärte sogar den Hass auf die Nachbarn zum Amalgam der Nationbildung. Nur im Hass würden die Deutschen einen „Vereinigungspunkt“ finden, der die divergierenden Kräfte im eigenen Land zusammenbinde. Im Befreiungskrieg gegen Napoleon predigte Ernst Moritz Arndt: „Ich will den Hass gegen die Franzosen, nicht bloß für diesen Krieg, ich will ihn für immer. Dann werden Deutschlands Grenzen auch ohne künstliche Wehren sicher sein, denn das Volk wird immer einen Vereinigungspunkt haben, sobald die unruhigen und räuberischen Nachbarn überlaufen wollen. Dieser Hass glühe als die Religion des deutschen Volkes, als ein heiliger Wahn in allen Herzen und erhalte uns immer in unsrer Treue, Redlichkeit und Tapferkeit.“
Die „naturgegebene Erbfeindschaft“
In Frankreich, wo man die Deutschen lange als gedankenvoll, aber tatenarm abgetan und in Deutschland ob seiner Schwäche keinen Rivalen gesehen hatte, erwachte der Nationalhass erst mit dem Krieg von 1870/71 und dem Verlust von Elsass-Lothringen. Von nun an war die „Erbfeindschaft“ symmetrisch. Die folgenden Katastrophen bildeten die sich selbst erfüllende Prophezeiung eines Mythos, der die Gegnerschaft der beiden großen Staaten im Zentrum Europas als naturgegeben und unauflöslich hingestellt hatte.
Adenauer hatte das Glück, in dem seinerzeitigen französischen Außenminister Robert Schuman einen verwandten Geist zu finden. Beide erkannten, dass der Ausgleich zwischen Deutschland und Frankreich nur über den Weg eines vereinten Europas gelingen würde. Europäische Institutionen bildeten aus französischer Sicht das beste Mittel, das unruhige Deutschland einzuhegen, aus deutscher Sicht die Möglichkeit, das Vertrauen der Nachbarn zu gewinnen. Der 9. Mai 1950 wurde zu einer Sternstunde der Nachkriegsgeschichte.
Der Schuman-Plan – eine Sensation
An diesem Tag trat in Bonn das Kabinett zu einer Beratung zusammen. „Ich wusste am Morgen nicht, dass der Tag eine bedeutsame Wendung in der europäischen Entwicklung bringen würde“, schrieb Adenauer in seinen Erinnerungen. In die laufende Kabinettssitzung platzte die Nachricht, dass ein französischer Kurier mit zwei Briefen Schumans nach Bonn gekommen sei. Eine unverzügliche Antwort sei erforderlich. Es handelte sich um ein privates, handschriftliches und um ein offizielles Schreiben. Das zweite erhielt ein Dokument, das später unter dem Namen Schuman-Plan bekannt wurde. In dem Dokument schlug der französische Außenminister vor, die gesamte Montanindustrie (also Kohle und Stahl) Deutschlands und Frankreichs in einer Behörde zusammenzufassen, die auch anderen Staaten zum Beitritt offenstehen sollte.
Die entscheidende Passage lautete: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen. Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, dass der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird.“ Adenauer war begeistert. Postwendend ließ er Schuman mitteilen, dass er dem Vorschlag aus vollem Herzen zustimme. Die Transformation der deutsch-französischen Feindschaft in Freundschaft, organisiert durch die Vereinigten Staaten von Europa: Das war die Idee. Sie mündete 1952 in die Gründung der Montanunion, der in den folgenden Jahren weitere Institutionen folgten.
Wird fortgesetzt.
Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler und Buchautor, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk. Das Buch zu dem Thema erscheint gerade im Theiss-Verlag: „Beste Feinde. Frankreich und Deutschland – Geschichte einer Leidenschaft“
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