Autor Gisbert Kuhn

 Von Gisbert Kuhn

In der Betrachtung von Völkern gibt es bestimmte Stereotypen. Das ist ganz einfach so und wird sich (wenigstens aller historischen Erfahrung nach) wahrscheinlich auch nie ändern. Danach sind die Franzosen zwar nicht absolut exakt, dafür aber charmant. Die Briten gelten als politisch im Prinzip beweglich, auf jeden Fall indes geschäftstüchtig. Den Spaniern werden eher “preußische” Tugenden nachgesagt, den Italienern – na ja, aber  eine gute Küche haben sie. Und den Polen… besser, man sagt nichts (“Sie wissen schon, wegen unserer Vergangenheit”). Natürlich fehlen auf dieser Tafel der angeblichen nationalen Eigenheiten auch die Deutschen nicht. Sie seien, so heißt es zwar einerseits, tüchtig und zuverlässig, andererseits jedoch leider mit nur wenig Humor ausgestattet.

Stereotypen sind die nahesten Verwandten der Vorurteile. Die, wiederum, sind zumeist eng verbandelt mit der Begriffskategorie der Halbwahrheiten. Und bei denen nun beginnt es, kritisch zu werden. Denn – wie schon das Wort sagt – darin ist beides enthalten: Wahrheit und Unwahrheit. Das Problem ist, man weiß meistens nicht, was richtig ist und was Trug. So gesehen, ist die reine Lüge eigentlich schon ehrlicher; da weiß man wenigstens (jedenfalls oft), woran man ist. Tatsächlich?

Betrachten wir (weil es am nächstliegenden ist) doch einfach mal unser eigenes Land und unsere Gesellschaft. Wir zählen uns, keine Frage, selbst zu den politisch, wirtschaftlich, kulturell und auch hinsichtlich des Bildungsstandards am höchsten entwickelten Völkern auf unserem Globus. Wir sind überzeugt, uns kann so leicht keiner etwas vormachen. Denn wir haben den Durchblick und behalten ihn auch. Und – nicht zuletzt – wir wissen, was allein wahr ist und richtig. So tönt es wenigstens aus den Gruppen, die hierzulande schon seit langem nach der Deutungshoheit greifen. Oft genug bei lautstarken Demos und immer häufiger sogar mit Gewalt.

Als Paradebeispiel dafür drängt sich der Kampf gegen die Corona-Pandemie geradezu auf. Genauer gesagt, der Streit um die Impfung gegen das Virus. Die Älteren haben in ihrer Mehrheit wohl die geringsten Schwierigkeiten, der Schutzwirkung des Serums zu vertrauen. Schließlich, wie war es denn in ihrer Kindheit? Nach dem Krieg grassierten – auch damals keineswegs nur in Deutschland – die hochgefährliche Lungenkrankheit Tuberkulose (Tbc), dazu Kinderlähmung (Polio), Masern und Pocken. Irgendwann erfolgte in den Volks- und weiterführenden Schulen die Durchsage: “Morgen früh klassenweise antreten. Es kommt das Impfmobil”. So geschah es dann auch – man wurde geimpft. Von Widerspruch oder gar Protesten verängstigter Eltern keine Rede. Und tatsächlich: Tbc, Pocken, Polio und Masern waren verschwunden. Ausgerottet! Wenigstens für lange Jahrzehnte.

Tempi passati, vergangene Zeiten. Kein vernünftiger Mensch würde sie zurückholen wollen. Schließlich herrschte bittere Not. Aber es waltete, vielleicht zwangsläufig, auch Vernunft bei den Menschen. Die seinerzeitigen Umstände sind mit mit unseren heutigen gewiss nicht zu vergleichen. Genauso wenig wie die Erwartungen, besser: Ansprüche an den Staat. Dessen (natürlich kostenlose) Fürsorgepflicht gegenüber jedermann gilt als pure Selbstverständlichkeit. Ist es – vor dem Hintergrund der von moralisierenden Kreisen so gern verordneten “politischen Korrektheit” – erlaubt, noch einmal an die gar nicht so lang zurückliegende Massenangst zu erinnern, als das Corona-Virus vor zwei Jahren Europa und damit auch Deutschland erreichte und man sich der Seuche schutzlos ausgeliefert sah?

Es gleicht einem Wunder, in welch sensationell kurzer Zeit ein verlässlicher Wirkstoff gegen die tückische Krankheit entwickelt wurde. Und zwar durch das schöpferische Zusammenwirken von menschlicher Genialität, dem Einsatz gewaltiger Finanzmittel und – nicht zuletzt – auf dem Weg einer grenzenlosen, wissenschaftlichen Zusammenarbeit. Ja, es hat Pannen gegeben. Ja, es wurden Fehler begangen. Bei der Beschaffung, bei der Verteilung, bei der Organisation des Impfverlaufes. Aber das ist vorbei; die Versorgung mit dem schützenden Mittel funktioniert längst. Kostenlos.

Was aber ist in dieser Gesellschaft los? Zum Glück ist es ja bislang (noch?) nur eine Minderheit, die sich dem Angebot der Gesundheitsvorsorge entzieht, ja mitunter sogar militant und mit den absurdesten Verschwörungs-Theorien dagegen angeht. Nun könnte man natürlich Jedem die Verantwortung für sein eigenes Wohlergehen zugestehen. Nicht aber eine, sozusagen selbst ernannte, Zuständigkeit auch für die Gesundheit seiner Mitmenschen. Wobei es einem, nicht selten, sogar den Atem raubt, wenn für sinnloseste Spökenkiekerei und sogar gewalttätige Sturmläufe einschließlich Straßenschlachten mit der Polizei die verfassungsmäßigen Freiheitsrechte herangezogen werden.

Noch einmal also – was geht in unserem Land und in unserer Gesellschaft vor sich? Natürlich hat es Ranküne, Einflüstereien und Ohrenbläsereien, auch Angst vor Konspirationen und Verschwörungen zu allen Zeiten gegeben. Aber wir leben doch heute eigentlich in einer aufgeklärten Welt mit vieltausendfach größeren Möglichkeiten der Informationsbeschaffung als jemals zuvor. Oder liegt, möglicherweise, gerade darin der Kern der Erklärung für so manche krude Denk- und Verhaltensweise? Übersteigen die sich manchmal ja wirklich geradezu überschlagenden politischen Ereignisse und technisch-technologischen Entwicklungen vielleicht die menschliche Verarbeitungsfähigkeit, so dass sich ein innerer Widerstand aufbaut?

Das ist gewiss nicht einfach von der Hand zu weisen. Und dennoch drängt sich gerade in diesem Zusammenhang die eingangs angesprochene Sache mit den Stereotypen und Massenphänomenen auf. Nun haben ja, weiß Gott, nicht nur die Menschen in Deutschland ihre Erfahrungen mit der Corona-Pandemie gemacht und deren Begleiterscheinungen durchlitten. Woanders – etwa in Italien, Spanien oder Frankreich – waren die Folgen sogar weit schlimmer. Nicht zuletzt mit Blick auf das Gesundheitssystem. Auch dort gab es vereinzelt Proteste gegen staatliches Versagen. Aber diese entsprangen nicht einer obskuren Angst vor Geisterspuk oder ähnlichem. Es würde nicht überraschen, wenn der Begriff “german angst” demnächst um “german spuk” angereichert würde.

Leider gibt es bisher gegen die Angst, dass sich irgendjemand oder irgendetwas gegen die eigene Person verschworen hat, noch keine Versicherung. Also zum Beispiel, dass “einer von denen da oben” veranlasst hat, mit dem Anti-Corona-Serum Menschen zu deren totaler Kontrolle einen Chip zu injizieren. So gesehen, könnte eine Versicherung tatsächlich ein Erfolg versprechendes Geschäftsmodell sein. Eine Grundbereitschaft dazu ist, ohne Zweifel, hierzulande vorhanden. Es ist gewiss kein Zufall, dass seit geraumer Zeit das Wort von der “Vollkaskogesellschaft” die Runde macht. Tatsächlich muss man jetzt schon nach Bereichen suchen, die nicht “versicherungstechnisch abgedeckt” sind. Die Spanne reicht von der Sterbe- über die Reiseabbruch- und Wetter- bis hin zur Ich-weiß-nicht-was-Versicherung.

Und dann passiert so etwas wie die Flutkatastrophe an der Ahr, der Erft und anderswo. Unvorhersehbar und zuvor unvorstellbar. Selbst in einem Land und einer Gesellschaft, die sich schon im Normalfall am liebsten in einer Dauer-Hysterie befindet. Es muss gar nicht unbedingt im eigenen Land etwas passieren, um Medien oder gesellschaftliche und politische Gruppierungen “in hohem Maße betroffen” zu machen. Ein Vulkanausbruch in Island, ein Tsunamie mit schrecklichen Folgen in Japan oder Sri Lanka – also tausende Kilometer entfernt – lösen hierzulande große Ängste aus. Die daraus entstehenden Verhaltens-Konsequenzen sind mitunter kurios. Als, zum Beispiel, der Atomreaktor im (heute ukrainischen) Tschernobyl explodierte, kauften unsere Landsleute praktisch kein Gemüse mehr auf den heimischen Märkten. Wohl aber mit gutem Gewissen wenige Kilometer jenseits des Rheins auf holländischer Seite. Hört sich komisch an, war aber so.

Und die Moral von der Geschichte? Es gibt keine. Natürlich sorgt sich die deutsche Bürgerschaft (zu Recht) weiterhin vor dem Corona-Virus. Das hält aber – erkennbar an der Zahl der Impfverweigerer und der wieder rasant ansteigenden Ansteckungszahlen – unfassbar viele Zeitgenossen nicht davon ab, ihr angeblich verfassungsmäßig garantiertes Feierleben in vollen Zügen auszukosten. Selbst wenn dadurch das Gesundheitssystem eines ganzen Landes bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gebracht werden sollte. Und vielleicht sogar darüber hinaus.
Aber man ist ja versichert. Und tut, wiederum darüber hinaus, ja Gutes, indem man (zum Beispiel) für das Klima demonstrieren geht.

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.         

- ANZEIGE -