Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

Vor wenigen Tagen, noch kurz vor dem von der Hamas verursachten barbarischen Massaker im Süden Israels, hatte der Ko-Vorsitzende der Grünen, Omid Nouripur, in einer TV-Talkshow beinahe orakelhaft gesagt, sollte es im Nahe Osten zu einer Zuspitzung kommen, werde „es keine 48 Stunden dauern, bis der Konflikt auch bei uns angekommen ist“.  Der 1976 in Teheran geborene und 1988 mit seinen Eltern nach Frankfurt geflüchtete Nouripur hat sich geirrt. allerdings nur in der zeitlichen Einschätzung. Tatsächlich hat es keine Stunde gedauert, bis  praktisch parallel zum Überfall der Terrorgruppe am 7. Oktober auf den (unverständlicherweise) praktisch völlig unvorbereiteten Judenstaat hunderttausendfach Hass und Freude über den Massenmord auf deutschen Straßen und Plätzen hinaus gebrüllt wurde. Von „Palästinensern“ und deren Kindern. Menschen also, die – warum und vor wem auch immer – aus dem Nahen Osten geflüchtet waren und in Deutschland Schutz und Sicherheit fanden.

Seither sind derartige Demos mit Hetzaufrufen gegen Israel und die Juden im Allgemeinen sowie in aller Regel auch Gewaltausbrüche gegen die Polizei an der Tagesordnung. Zuvorderst in Berlin, aber auch in Städten wie Duisburg, Dortmund oder Hamburg. Jedoch auch in vielen anderen Ländern Westeuropas – ja, eigentlich rund um den Globus. Freilich nur in Demokratien. Zufall? Natürlich nicht. Was wir als Politiker, Sicherheitskräfte oder Gesellschaft insgesamt aktuell erleben und was uns in seinem Ausmaß entsetzt, das ist keine unvorhersehbare Naturkatastrophe wie ein Erdbeben. Auf den Straßen in Neukölln und anderswo bricht sich auch nicht plötzliche Empörung und zuvor nicht vorhandene Wut Bahn. Nein, wir stehen vor dem Ergebnis einer im Kern zwar von Mitmenschlichkeit getragenen aber verfehlten, weil völlig unkontrollierten Zuwanderung.

Wir haben – medial, politisch, kirchlich, gesellschaftlich – jahrelang aller Welt unsere hohe Moral und grenzenlose Hilfe für die Armen, Verfolgten und Geschundenen dieser Erde demonstriert. Was dabei allerdings vergessen wurde, war die Basiserkenntnis, dass nicht alle Menschen in gleicher Weise das „Gute“ wollen. Kurzum – wir haben uns die jetzt kumulierenden Probleme selbst importiert und werden (alle zusammen) nun enorm aufpassen und Vieles tun müssen, damit aus den Problemen hierzulande nicht auch noch blutiger Terror wird. Natürlich haben besonnene Zeitgenossen Recht, die in diesen Tagen fast schon flehentlich davor warnen, sämtliche in Deutschland lebenden Muslime mit den Krawallmachern gleichzusetzen. Denn wahrscheinlich möchte tatsächlich deren mit Abstand überwältigende Mehrheit mit der Hamas und deren Untaten nichts zu tun haben. Allerdings – müssten diese Mitbürger ihre ablehnende Gesinnung nicht ebenso jetzt offen sichtbar auf die Straße tragen?

Warum ist bislang noch kein einziger Imam in eine Jüdische Gemeinde gekommen, um sein Mitgefühl und seine Abscheu (und die seiner Gemeinde) wegen der antisemitischen Schmierereien an Synagogen und anderen Gebäuden auszudrücken? Aus Angst vor eigenen Glaubensbrüdern? Weil Drohschreiben und sogar Morddrohungen aus den „eigenen“ Reihen an der Tagesordnung sind? Im Augenblick, unter dem Druck der Verhältnisse, überschlagen sich ja nahezu alle am Diskurs und an den Entscheidungen Beteiligten mit mehr oder weniger allgemeinen Versicherungen und Vorschlägen, dass (aber weniger, wie) man drohender Gewalt aus dem „deutschen“ Palästinenser-Bereich „mit der ganzen Härte des Rechtsstaats“  begegnen werde. Sicher, es wird wohl gelingen, diese – von wo aus auch immer – offensichtlich per Knopfdruck ausgelösten „spontanen“ Straßen-Aufmärsche und Gewaltausbrüche polizeilich in den Griff zu bekommen. Aber damit werden doch der Wut-Faktor und die permanente Empörungs-Bereitschaft nicht aus den Köpfen verschwinden.

 Verblüffend, mehr noch: beklemmend, wirken nicht zuletzt die jugendlichen, hassverzerrten Gesichter in der Masse der Demonstranten. Kinder und Heranwachsende, meistens (aber keineswegs allein) Jungens, die allermeisten davon vermutlich Schüler. In Deutschland geboren, aufgewachsen, deutsche Staatsbürger. Dennoch werden auch sie in der täglichen Berichterstattung unter dem Begriff „Palästinenser“ geführt. Terror, Vertreibung, Flucht haben sie nie erlebt. Sie kennen das nur aus den Erzählungen der Elterngeneration. Aber das ist etwas ganz anderes. So etwas haben hierzulande hunderttausende von Kindern nach dem Krieg auch erlebt. Und zwar unter unvergleichlich schwierigeren äußeren und sozialen Bedingungen. Auch sie, die Nachkommen von Vertriebenen und Zugewanderten, wurden auf den Schulhöfen angepöbelt, als „Schmarotzer“ beleidigt, verprügelt, diskriminiert und ausgegrenzt. Aber diese Kinder waren seinerzeit in der öffentlichen Darstellung schon keine Ostpreußen mehr, nicht mehr Schlesier oder Sudetenländer wie ihre Eltern – sondern bereits  Hessen, Bayern, Holsteiner, mithin Deutsche. Weshalb also übernimmt unser heutiger Sprachgebrauch so unkritisch die Zuordnung „Palästinenser“? Denn an sich können „Palästinenser“ doch bloß Menschen sein, die in Palästina leben.

Egal – unter dem Druck der Ereignisse auf deutschen Straßen und Plätzen, der drohenden Schlachten zwischen zu Gewalt entschlossenen Demonstranten und der Polizei, aber auch der alarmierenden Wahlergebnisse mit hohen Zuwächsen der rechtsextremen AfD findet jetzt eine fieberhafte suche nach „Lösungen“ statt. „Die Schule“, heißt es allenthalben, müsse mehr „Aufklärung“ betreiben, etwa über den millionenfachen Judenmord zur Nazi-Zeit. Und „die Schule“ müsse den Muslimen nahebringen, warum die „Sicherheit Israels zur deutschen Staatsraison“ gehöre. Aber was ist das, „die Schule“? Natürlich sind es die Lehrer, vor allem jene an so genannten Brennpunktschulen, die häufig genug allein schon sprachlich (geschweige denn disziplinarisch) kaum noch gegen ihre Multikulti-Schülerschaft ankommen. Geschweige denn gegen eine von daheim und in Gesinnungsgruppen politisierte, ideologisierte oder gar schon radikalisierte und zu Gewalt neigende.

Keine Frage, wir stehen vor einem Scherbenhaufen. Nämlich vor nahezu allen zerbrochenen, davor lange und liebevoll gepflegten Vorstellungen von zivilisiertem menschlichen Massenverhalten, von der Integrations- und Anpassungsbereitschaft ganz anders geprägter Ethnien an das westliche Moral-, Werte- und Lebensmuster. Dabei kam das doch nicht aus heiterem Himmel. Gewiss, der äußere Anlass für die aktuellen Ausschreitungen in Berlin etc. war der grausige Überfall der Hamas in Israel. Aber Judenhass – keineswegs nur an Schulen und unter Jugendlichen „mit Migrationshintergrund“, sondern genauso unter „Bio-Deutschen“ verbreitet – ist auch hierzulande schon seit langem wieder gang und gäbe. Dazu reicht ein einziger Ausflug ins „Netz“, um dort Eintragungen von Weltverschwörern anderen Narren in schier unerträglichen Mengen zu finden. Da fragt sich der Zeitgenosse, so er denn Logik hat, ob der Mensch wirklich die Krönung der Schöpfung sei.

Aber der fassungslose Griff an den Kopf führt leider zu keiner Lösung. Allein in Berlin leben mittlerweile rund 40 000 (!) Palästinenser“. Das sind so viele, wie eine mittlere deutsche Stadt Einwohner hat. In manchen Bezirken Berlins, wie Teilen von Kreuzberg und Neukölln, bestehen praktisch migrantische Selbstverwaltungen. Als vor rund einem Jahrzehnt der zupackende damalige sozialdemokratische Bezirksbürgermeister von Neukölln, Heinz Buschkowsky, nicht nur auf die dramatischen Zustände aufmerksam machte, sondern mit zum Teil spektakulären Maßnahmen (Wachschutz an Schulen, Aufwertung von Schulen, Ausbildung von so genannten Stadtteilmüttern usw.) spürbar für Besserung sorgte, geschah das nicht selten gegen den Senat und auch gegen die eigene SPD.

Nun steht man vor einem neuen Schlamassel. Sicher, der palästinensische Empörung-Gehorsam „auf Knopfdruck“ ist keineswegs eine auf Deutschland beschränkte Erscheinung. So etwas setzt Disziplin, Training, Übung, aber wahrscheinlich auch einen bedingungslosen Glauben an die „eigene Sache“, prinzipielle Ablehnung westlicher Wesens- und Lebensart und Ausblendung praktisch jeglicher Zweifel und kritischer Fragen voraus. Derartige Fähigkeiten aufzubringen, ist bereits für ein einigermaßen intelligentes Individuum schwierig genug. Aber als millionenfaches Massenphänomen kaum begreiflich. Denn die Knopfdruck-Empörung geht ja weit über Berlin, Duisburg, Dortmund und die eigenen Landesgrenzen hinaus. Allein das (befohlene?) Gefühl zählt, Fakten sind gleichgültig. Vor allem solche, die nicht in das eigene Bild passen. Das aktuellste Beispiel sind die Reaktionen aus der arabischen Welt auf die folgenschwere Explosion neben dem Krankenhaus in Gaza.

 Bloß, das hilft nichts. Man darf sich doch nicht mit dieser Situation abfinden. Nicht mit einer im eigenen Land unaufhörbar tickenden Zeitbombe! Doch wer vemag in derart geschlossene Weltbilder der Menschen eindringen, sie vielleicht gar wenigstens ins Wanken bringen? Die in der Vergangenheit meistens auf sich allein gestellte, hoffnungslos überforderte Lehrerschaft ganz bestimmt nicht. Ganz sicher jedenfalls nicht in den „Problemschulen“. Der Glaube an die Wirksamkeit von Händchenhalten und gutem Zureden hat sich – glücklicherweise – inzwischen weitgehend verflüchtigt. Selbst bei der grünen Partei; zumindest an deren Spitze. Aber das Deprimierende ist – je mehr man grübelt, desto mehr Fragen drängen sich auf. In welchem Zustand befindet sich unser Land?

„O tempora, o mores“ hatte im antiken Rom der begnadete Redner Cicero geklagt – „Oh Zeiten, o Sitten“. Die von Wutschreien und Judenhass geprägten arabischen Ausbrüche der vergangenen Tage in Berlin und anderswo übertönten ja ohnehin nur den schon lange auch durch unsere Gesellschaft schleichenden Antisemitismus. Wie lange hält sie noch fest an dem von Angela Merkel beschworenen Schulterschluss mit Israel als „deutscher Staatsraison“? Wer empfindet noch den nach dem Krieg geleisteten „Nie-wieder“-Eid als für sich bindend? „Was haben wir mit Auschwitz und dem Judenmord zu tun? Das habt doch Ihr getan, nicht wir“. Diese Antwort erfolgt oft, wenn arabische Jugendliche (und auch Erwachsene) auf den Holocaust und Deutschlands besondere Verantwortung angesprochen werden. Und – bedrückend genug – so oder so ähnlich erwidern zunehmend auch Deutsche. Und zwar auch solche, die längst dem Schulalter entwachsen sind.

Von politischer Seite ist im Moment viel von „Entschlossenheit“ zu hören. Wieder einmal. Man darf gespannt sein. Antisemitismus, dazu Hass auf die westliche Art von Freiheit, Ausblenden jeglicher Selbstzweifel und kritischer Einwände – eine wahrhaftig explosive Mischung. Am 9. November jährt sich, übrigens, zum 100. Mal der Tag von Hitlers gescheitertem Putsch und dem Marsch auf die Münchener Feldherrnhalle sowie zum 85. Mal der Reichspogromnacht. Beides soll historisch richtig und menschlich würdig begangen werden. In einem Land mit einer Bevölkerung, die sich selbst nicht mehr einig ist. Es war der Journalist und scharfzüngige Kritiker Kurt Tucholsky, der den an sich schon absurden Antisemitismus mit diesem Text noch besonders absurd werden ließ:

„Die Juden sind an allem schuld“, meinte einer. „Und die Radfahrer“, sagte ich. „Wieso denn die Radfahrer?“, antwortete er verdutzt. „Wieso denn die Juden?“, fragte ich zurück.

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

 

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